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Vom Ende der Volksparteien

Liest man Nachrichten und Kommentare über die verheerenden Wählerverluste der Volksparteien in den Wahljahren 2017 und 2018, also über die Wahlergebnisse CDU, CSU und SPD, wird älteren Menschen, die ein Leben lang Politik beobachtet und mitgestaltet haben, plötzlich bewusst, dass eine neue Generation von Berichterstattern und Politikberatern gewollt oder ungewollt einen Bedeutungswandel zentraler Begriffe herbeigeführt oder unbmerkt übernommen hat. Es sieht so aus, also ob der Bedeutungswandel von politischen Begriffen allein dem unaufhaltsamen Generationenwechselgeschuldet sei. Aber ist das wirklich so?

 

Das Arsenal der politischen Begriffe, mit der Sprache die Wirklichkeit abzubilden, besser gesagt, begreiflich zu machen versucht, ist zwar theoretisch unbegrenzt, aber die politische Praxis mit ihren  handfesten Interessen und systemischen Grenzen bewirkt dann doch, dass allmählich immer schwerer zu überwindende begriffliche Einhegungen entstehen, die mit der Zeit sogar jenen schädlich sind, die über den Grenzverlauf der Begriffsdefinitionen bestimmen, oder - wie es üblicherweise heißt - die Definitionsmacht haben.

Es ist dies alles nicht so neu, dass man unterstellen könnte, diejenigen, die gelernt haben, sich zu artikulieren, ihre Gedanken auszudrücken, ihre Meinung zu sagen, wüssten das nicht. Jeder weiß doch, dass er eine Schere im Kopf hat, die ihm das Wort abschneidet, dass er einem stärkeren und andersdenkenden Gegenüber allzu gern äußern würde. Erst wenn die Mächtigen die als Konventionen bezeichneten Spielregeln brechen, die Sprachregeln, die meist als Anstandsregeln empfunden werden,  missachten, wie das zum Beispiel der derzeitige US-Präsident praktiziert, fühlen sich auch schwächere Mitglieder der Gesellschaften berechtigt, das bis dahin Unaussprechliche auszusprechen.

 

In meiner Kindheit war es noch unmöglich, Schimpfwörter wie Arschloch oder Angebote wie, Du kannst mich mal..., im öffentlichen Raum zu äußern. Das war allenfalls innerhalb von und zwischen Jugendgangs oder unter Berg- und Bauarbeitern am Arbeitsplatz möglich, aber meist nicht einmal dort. Heute ist "das kleine Arschloch" ein Filmtitel, "Scheiße" ein salonfähiger Begriff sogar in den Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

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Das jüngste Beispiel bietet der Begriff "Volkspartei", Viele benutzen ihn inzwischen einfach so, als hätte er nie etwas anderes bedeutet als "große Mitgliederpartei", die auch die meisten Wähler für sich gewinnen, also sich schon deshalb als repräsentativ für "das Volk" betrachten kann. Daher benutzen immer mehr Journalisten und wissenschaftliche Politikerklärer den Begriff Volkspartei so, als ob sie nach diesen Wahlen gar kein Anrecht mehr hätten, sich Volksparteien zu nennen. Doch so sehr sie auch zusammengeschmolzen sind, ihren Anspruch, Volkspartei zu sein, haben sie nie aus der Zahl ihrer Wähler abgeleitet.

 

Vielleicht wissen ja diejenigen, die den Begriff nun so grundfalsch benutzen, was er ursprünglich bedeutete und wollen keine schlafenden Hunde wecken. Aber das halte ich für äußerst gefährlich. In einer Demokratie, gerade in einer kapitalistischen, deren Hauptmerkmal es doch ist, dass sie Demokratie nur als Staatskontrolle gut findet, aber die Forderung nach der längst überfälligen Konzernkontrolle als demokratiefeindlich bekämpft, ist es die Stunde der Demokratiefeinde, wenn keine Klarheit über die politischen Begriffe herrscht. 

 

Der Begriff Volkspartei hat mit der Parteigröße und ihren Wähleranteilen nichts zu tun. Er ist zuerst einmal ein Widerspruch in sich. Denn ein Volk ist - idealisiert - etwas Ganzes und Homogenes. Eine Partei, wie das Wort es ja selbst verrät, kann immer nur Teil dieses Ganzen sein. Der Begriff Volkspartei ist - von seinem Ursprungher betrachtet - die reaktionäre Antwort auf die im 19. Jahrhundert entstehenden sozialistischen Klassenparteien. Im Klartext: Volksparteien waren und sind es objektiv immer noch, die demagogische und ideologische Antwort auf die demokratischen Arbeiterparteien, die sich als organisierte Arbeiterbewegung im kapitalistisch gewordenen Staat die Rechte erkämpfen wollten, die ihnen gemäß der bürgerlicchen Aufklärungsprinzipien wie jedem Staatsangehörigen zustehen, aber nicht gewährt wurden.

 

Vor diesem Hintergrund bedeutete Volkspartei, dass dieser Parteityp den Gegensatz von Kapital und Arbeit, der eine feudalistische Gesellschaft in einer kapitalistische Gesellschaft umstrukturiert, in sich vereinigt, das aber heißt praktisch, den Klassengegensatz durch die betonung "höherer Werte" als die materiellen, zum Beispiel christliche und nationale, ins Extrem getrieben auch rassistische, überdeckt und so einen Zusammenhalt organisiert, der die Existenz sozialer Klassen mit unvereinbaren Interessenunterschieden entweder ganz leugnet oder als Gefahr für "die Volksgemeinschaft" deutet und bekämpft.

 

Eine Gesellschaft, deren wichtigsten Teile objektiv zwei Lager bilden, Kapitaleigner und Lohnarbeiter, haben natürlich entgegengesetzte existentielle Interessen. Sie zu leugnen ist unmöglich, weil sie ja von der großen Mehrheit der Bevölkerungen täglich erlebt und durchlitten werden. Die Interessengegensätze sind durch die bestehenden, in Gesetze gegossene bürgerlichen Eigentumsverhältnisse auch unmittelbar praxisrelevant. Nur ein Beispiel: Das Recht des Vermieters, seinem Mieter wegen Eigenbedarfs zu kündigen. Ein so selbstverständliches Recht, dass niemand fragt, was anschließend dem gekündigten Mieter widerfährt. Findet er eine neue, eine bezahlbare Wohnung?Wo bleibt das Gesetz, dass den Wohnungeigentümer, der Eigenbedarf anmeldet, verpflichtet, seinem gekündigten Mieter erst einmal eine gleichwertige Wohnun zu beschaffen.

 

Zwar gelten die Eigentumsrechte für jeden, man darf dem Bettler nicht seinen Hut mit den Almosen entwenden, das heißt, dass für den, der nichts oder kaum etwas Anderes besitzt als seine Arbeitskraft, die Lohnabhängige, um Leben zu können, an Leute verkaufen müssen, die ihr Kapital in Form von Produktionsmittel dazu nutzen dürfen und dies auch tun, Arbeitskräfte zur Vermehrung ihres Kapitals auszubeuten,das heißt so schlecht zu bezahlen, dass sie davon nicht einmal ihren existentuellen Lebensunterhalt bezahlen können.

 

Mit der Ablösung der feudalistischen Ständegesellschaft, die das mittelalterliche Europa prägte, durch den darin unterprivilegierten Dritten Stand, also das im Schoß dieser Gesellschaft durch den Kolonialismus und Rassismus der Feudalherrn reich und schließlich kapitalistisch gewordene Bürgertum, wurde der Volksbegriff objektiv hinfällig. Das revolutionäre Bürgertum setzte an die Stelle des "Volkes" (das man auch Nation nannte) den Begriff "Gesellschaft". Die Einheit der Gesellschaft wurde nicht mehr - wie zu Zeiten der Feudalherrn - rechtlich über Bluts- und Familienbande definiert, sondern über den juristischen Begriff der Staatsbürgerschaft. Diese war es von nun an, die - wenn wir hier kurz an Rousseau denken - durch einen Gesellschaftsvertrag vereinigt ihr auf das Gemeinwohl verpflichtetes Zusammenleben regelte.

 

Der Gesellschaftsvertrag ist zwar ein rein theoretisches Konstrukt, aber mit von vielen Menschen weit unterschätzten, das heißt wichtigen und richtigen Funktionen. Wir nennen diesen Vertrag ihn Grundgesetz oder Verfassung. Und weil nun einmal im Kapitalismus Familien, Vereine, Gemeinden, Kommunen nicht mehr die zentrale Rolle spielen wie die Staatsbürgerschaft, die sich aus allen möglichen Menschen (man denke an die Bevölkerung der noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika) mit den verschiedenstens Herkunftländern, Abstammungen, Hautfarben, Religionen und Weltanschauungen zusammensetzt, wird das, was trennt, was spaltet, von der Verfassung zwar hoch und heilig geschützt, aber in die Privatsphäre verbannt.

 

Was immer jemand glaubt, welcher Kultur, Religion oder Weltanschauung er auch anhängt, es ist für den bürgerlichen Begriff der Aufklärung seine Privatangelegenheit. Der bürgerliche Staat, die bürgerliche Verfassung garantiert deshalb, die Privatsphäre der Staatsbürger, soweit sie sich als solche verhalten, also Recht und Ordnung beachten, zu respektieren und auch vor bösen Nachbarn, Dieben und Gewalttätern zu schützen. Der bürgerliche Staat verlangt also nur, die Verfassung und die sich in ihrem Rahmen haltenden Einzelgesetze zu respektieren. Alles andere ist Privatangelegenheit. Dies freilich ist eine Voraussetzung dafür, dass sich auch Staatsbürger der verschiedensten Privatverhältnisse in einer Volkspartei zusammentun können, um die Werte der Privatsphäre wie das Privateigentum (zum Beispiel vor Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten) zu schützen.

 

Denn nur so kann - nachdem das Klassenwahlrecht abgeschafft ist - die als Gesellschafts- und Staatsordnung festgeschriebene kapitalistische Klassengesellschaft mit ihren bestehenden Macht-, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissepolitisch politisch verteidigt werden. Es braucht dazu Parteien, die das Eigentumsrecht, dass juristisch vollkommen der Privatsphäre zugeordnet wird, vor staatlichen Übergriffen verteidigt werden. Wenn nämlich eine Partei, die das Privateigentum - und sei es auch nur teilweise - in Gemeineigentums umwandeln will, dies auch könnte, wäre das das Ende der Kapitalherrschaft.

 

Dieses Ende herbeizuführen, wäre mit großen politischen Mehrheiten völlig friedlich und gesetzlich möglich, wenn Abgeordnete einer sozialistischen Partei in freien Wahlen das Recht durch den "Souverän" ("das Volk") verliehen bekäme, zum Wohle der Allgemeinheit (wozu nach neueren Erkenntnissen auch die Rettung des ökologischen Gleichgewichts unseres Globus gehört), die unternehmerische Betätigungsfreiheit der Eigentümer von Kapital einzuschränken oder abzuschaffen. Das Problem ist dabei, dass der Staat, auch wenn erdurch freie Wahlen, also nicht durch revolutionäre Gewalt, von Leuten regiert würde, die einen demokratischen Sozialismus wollen, nicht einfach über Nacht ein sozialistischer Staat werden könnte.

 

Angefangen bei Armeen und Polizeien, Staatsanwaltschaften und Juristen, aber auch in allen anderen öffentlichen Einrichtungen und Instituionen, dazu bei Kirchen und anderen Verbänden, nicht zuletzt bei sozialismusfeindlichen, ja überhaupt demokratiefeindlichen Parteien, Wissenschftlern, Dichtern und Denkern, handelt es sich um Menschen mit Privatinteressen, die es - weil sie staatlich geschützt sind - erlauben, sie auch vor einem sozialistischen Gemeinwesen zu verteidigen. Aber Sozialismus erfordert ein Höchstmaß an Soliarität, und dies müsste er - als Staatsordnung gedacht - fordern, um zu funktionieren. Das kann er aber nur, wenn die Mehrheit der Menschen den über die Mechanik kapitalistischer Selektion auf allen Stufen der sozialen Hierarchie hergestellten individualistischen Konkurrenzgedanken aufzugeben bereit ist und einsieht, dass es dieser ist, der nicht nur ihre eigenen Lebensgundlagen zerstört, sondern auch das der kommenden Gemerationen, der eigenen Kinder, Enkel und der übrigen Nachgeborenen.

 

Zurück zu den Wurzeln des Problems:

Die ersten also ältesten bürgerlichen Staaten, die ja den Feudalismus nur formal, nicht kulturell besiegt hatten, also in ihren Verfassungen auch noch Formen und Inhalte der teilweise überwundenen Feudalordnung garantierten, zum Beispiel die Monarchie, war keine dann aber keine wirkliche Monarchie mehr, sondern eine konstituionelle, eine scheinbare. Das Beispiel Great Britain ist noch immer ein interessantes Überbleibsel dieser in Europa sehr frühen Kämpfe zwischen Adel und Bürgertum, also dem Klerus und dem Adel als den privilegierten Ständen des Feudalsystem und dem Dritten, dem unterprivilegierten Stand der Bourgeoisie.

 

Wo die Bourgeoisie den Sieg davontrug, setzten sich Freihandel und bürgerliches Recht als Eigentumsrecht, wenn auch - wie in Frankreich, erst nach drei Revolutionen - konsequenter durch. Hier wurden erstmals in Europa Staat und Kirche durch die Verfassungen getrennt und eine "weltliche" Staatsordnung etabliert. Die Monarchien wurden abgeschafft. Es wurden an ihren Stellen Republiken errichtet. Das heißt natürlich nicht, dass Kirchen keine Rolle mehr spielten. Es gab nur keine Staatskirche mehr. Auch diese Maßnahme gehörte zur Einführung und Durchsetzung dessen, was man heute Rechtsstaat nennt. Die formale, das heißt die rechtliche Trennung von Gewalten, ist eine wichtige politische Errungenschaft, ist aber ursprünglich mehr gewesen als die Trennung der Staatsgewalt in die Legislative, Exekutive und Judikative. Denn auch die Kirche gehörte zur Staatsgewalt, so lange sie Staatskirche war.

 

Wichtig ist also auch zu wissen, dass nicht die Demokratie das Ziel der bürgerlichen Revolutionen war, sondern die Eroberung der Staatsgewalt und ihre Bändigung durch Rechtsstaatlichkeit. Denn nicht das "Volk", sondern das reich gewordene und immer kapitalistischer denkende und handelnde Bürgertum vermisst im Feudalimus Rechtssicherheit, Sicherheit vor staatlichen Übergriffen auf das Eigentum der Bürger durch immer höheren Lizenzkosten, Steuern und Abgaben, rechtliche Einschränkungen ihrer unternehmerischen Initiativen. Dies war der Grund, weswegen der Dritte Stand sich als ein Nichts empfand und den privilegierten, von Steuern befreiten, als Parasiten empfundenen Feudalherrn entgegenschleuderten, sie seien in Wirklichkeit das Volk, der Souverän.

 

Wird fortgesetzt:

 

 

 

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