Hessische Abgeordnete des Paulskirchenparlaments Jacob Grimm und Wilhelm Schulz - Vorgeschichte und Folgen der Revolution von 1848/49 am Beispiel zweier historischer Persönlichkeiten

Hans See

Vorbemerkung

Unter bestimmten Voraussetzungen ist es durchaus sinnstiftend, Erinnerungen an die mißlungene Revolution von 1848 wachzuhalten oder wiederzuerwecken. Das eher rituelle öffentliche Gedenken bietet - wie das Schrifttum zu den Gedenkjahren 1898, 1948 und 1998 belegt -, Anlässe genug, die für die deutsche Geschichte positiven Aspekte dieses Ereignisses angemessen zu würdigen. Vor allem „die Gnade der späten Geburt“ erlaubt der heutigen Generation die beschönigende Sicht des historischen Rückblicks, aber auch das Bedürfnis, die dunklen Seiten der deutschen Geschichte, vor allem das Versagen des deutschen Bürgertums auf dem schweren Weg zur parlamentarischen Demokratie endlich zu vergessen oder bedarfsgerecht zu relativieren.

 

Angesichts der wirklichen Demokratiegeschichte Deutschlands, aber auch angesichts der gegenwärtigen Krise unserer Wirtschaft und Gesellschaft, scheint es mir wichtig, den Anlaß für eine kritische Erinnerungsarbeit zu nutzen. Bestärkt fühle ich mich darin, weil die aktuelle Diskussion um den großen Lauschangriff einen erneuten Beweis liefert, daß auch viele bürgerlich-demokratische Abgeordnete unserer gefestigten Demokratie nach wie vor ein gebrochenes Verhältnis zur Verfassung, vor allem zu den Grund- und Bürgerrechten sowie den Menschenrechten haben. Ich will daher den nicht leichten Versuch unterneh-men, die der Revolution von 1848 innewohnenden Widersprüche mit dem Ziel zu entschlüsseln, sie als Ursachen für die dann folgenden leidvollen und opferreichen Fehlentwicklungen der deutschen Geschichte kenntlich zu machen. Dies mag dazu beitragen, auch die Gegenwart, in der die Regierenden und Parla-mentsmehrheiten parteiübergreifend - trotz aller historischen Erfahrungen - die Verfassung demontieren, besser zu verstehen.

 

Im ersten Abschnitt will ich anhand wichtiger Lebensdaten, aber auch der weltanschaulich-wissenschaft-lichen und der politischen Positionen zweier Abgeordneter, einer der rechten und einer der linken Mitte, nämlich von Jacob Grimm und Wilhelm Schulz, im Lichte subjektiver Faktoren Ursachen des Scheiterns der Revolution analysieren. Auch die verhängnisvollen Folgen dieses Scheiterns können - ohne persönliche Schuldzuweisungen ­ - exemplarisch auf das Verhalten der Mehrheit der Paulskirchenmänner zurückgeführt werden. Es muß genügen, die Entwicklung dieser beiden Politiker, Wissenschaftler und Publizisten bis zu ihrer Wahl als Abgeordnete des Paulskirchenparlaments zu verfolgen, obgleich sie auch noch danach weiter wirkten und nach ihrem Tod noch große Bedeutung gewinnen sollten. Grimm als eine Art Stammvater der Germanistik, deren ideologischer Einfluß erst nach der Studentenrevolte von 1968 auf dem Rückzug ist, Schulz seit der Studentenrevolte, weil er so etwas wie der Stammvater des sozialdemokratischen Linkslibe-ralismus betrachtet werden muss.

 

Im zweiten Abschnitt werde ich Schwachpunkte und Widersprüche des Paulskirchenparlaments ganz allgemein und die Bedeutung der Persönlichkeiten von Grimm und Schulz als Abgeordnete, aber auch für die Zeit danach bis zu den jüngsten historischen Entwicklungen skizzieren. Es ist keineswegs beabsichtigt, eine ungebrochene Linie von 1848 bis 1933 zu ziehen, wie dies oft genug geschieht, sondern auch die ehrlichen, mutigen und tragischen Bemühungen und Kämpfe von Teilen der deutschen Bevölkerung, ein wirklich demokratisches Gemeinwesen zu schaffen, wenigstens in Umrissen sichtbar werden zu lassen.

 

I. Verschlungene Wege zum Paulskirchenparlamentarier

Warum Jacob Grimm und Wilhelm Schulz? Unter den mehr als 600 Volksvertretern, die 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt wurden, waren Jacob Grimm und Wilhelm Schulz keine besonders herausragenden Figuren. Ich habe diese beiden herausgegriffen, weil sie Hessen waren und in Hessen ihre politische Sozialisation durchliefen. Grimm war Kurhesse, aber kein Abgeordneter eines hessischen Wahlbezirks. Er lebte zur Zeit seiner Wahl in Berlin. Aber er vertrat den Wahlkreis Mühlheim/ Essen. Schulz stammte aus Darmstadt, war also Großhesse. Er mußte, um gewählt werden zu können, aus der Schweiz, wo er seit 12 Jahren im Exil lebte, wieder in seine Heimatstadt Darmstadt zurückkehren.

 

Es gab sicher wichtigere aus Hessen stammende Persönlichkeiten in diesem Parlament. Heinrich von Gagern zum Beispiel. Doch Jacob Grimm und Wilhelm Schulz waren - mit Blick zurück auf ihre Repräsentativität als Paulskirchenmänner und auf die Wirkungsgeschichte ihrer wissenschaftlichen und publizistischen Leistungen - zweifellos die bedeutenderen. In den folgenden Abschnitten wird diese These ihre Begründung finden.

 

Nicht, daß Grimm und Schulz Abgeordnete, sondern daß sie - besonders aus heutiger Sicht - für die deutsche Geschichte schon vor, besonders jedoch nach 1848 - ja weit über ihren Tod hinaus - einflußreiche Persönlichkeiten waren, daß sie es noch immer sind, macht ihre historische Bedeutung aus.

 

Daß sie für einen kurzen Moment ihres reichen wissenschaftlichen und politischen Lebens als gewählte Volksvertreter in der ersten deutschen Nationalversammlung dabei waren, ist auch aus heutiger Sicht noch immer interessant, doch für ihr Leben, ihr Wirken und - vor allem - für ihre historische Wirkung, die bis in unsere Zeit hineinreicht, eher von geringerer Bedeutung.

 

2. Jacob Grimm - ein Hofdemokrat der Erbkaiserpartei

Jacob Grimm wurde bekanntlich - wie sein ebenfalls berühmter Bruder Wilhelm - in Hanau am Main geboren, wuchs in Steinau an der Straße heran und zog später nach Kassel, wo er einen großen und wichtigen Teil seines Lebens verbrachte. Er gehörte - gemäß seiner Hanauer Herkunft und einer langen Familiengeschichte - der reformierten Kirche an, war also Calvinist. Zeit seines Lebens war und blieb er ein gemäßigter konservativer und tief religiöser, aber ein für die Freiheit einstehender Mensch.

 

Sein Freiheitsbegriff hatte aber mit dem der Kaufleute und Industriekapitäne seiner Zeit so gut wie nichts gemein. Die Parole der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ war ihm schlicht zuwider. Seine Vorstellungen von Freiheit vertrugen sich allenfalls mit der konstitutionellen Monarchie, nicht mit der Republik.

 

Wo immer Jacob Grimm gerade lebte, mit Hessen, besonders mit der Stadt Kassel, fühlte er sich eng verbunden. Als er jedoch zum Abgeordneten gewählt wurde, hatte er schon eine Professur in Berlin. Er wird sogar in den stenographischen Berichten als „Jacob Grimm aus Berlin“ verzeichnet. Er hatte aber weder ein Hessisches noch ein Berliner Mandat. Ihm wurde nämlich - und er fühlte sich dabei geehrt - das eigentlich für Ernst Moritz Arndt reservierte Mandat aus Essen und Mühlheim an der Ruhr angeboten. Er nahm an, obgleich er damit einen Wahlhreis vertrat, der von Sorgen geplagt wurde, die Grimm nicht kannte und die er nur schwer vertreten konnte. Als Sproß einer Beamtenfamilie und ein Mann, der fast immer eng mit Adligen und Fürsten verbunden war, gehörte er zu den als „Hofdemokraten“ verspotteten Vertretern in der ersten deutschen Nationalversammlung, obgleich er sich redlich Mühe gab, die sozialen Interessen seines Wahlkreises wahrzunehmen.

 

Jacob Grimm, geboren 1785, stammte aus einer Beamtenfamilie und stand den größten Teil seines Lebens im Dienst verschiedener Fürsten. Im Januar 1806, mit 21 Jahren, wurde er ins Kriegskollegium des Kurfürsten von Hessen-Kassel berufen, schied aber schon im August 1807 wieder aus, weil der Sieger über die Deutschen, Kaiser Napoleon, als Sitz des von ihm für seinen Bruder Jerôme geschaffenen Königreichs Westfalen die Residenzstadt Kassel bestimmte. Grimm erhielt am Kasseler Hof die Stelle eines privaten Bibliothekars des neuen Herrschers. Es war dies der Bruder des französischen Kaisers, der König von Westfalen. Der ernannte Grimm darüber hinaus im Februar 1809 auch noch zum „auditeur au conseil d`Etat“, zum Kabinettsekretär. Damit war er quasi Regierungsmitglied des in Deutschland verhaßten Franzosenregimes.

 

Unmittelbar nach der Niederlage Napoleons, Ende 1813, trat Jacob Grimm wieder in den diplomatischen Dienst des zurückkehrenden Kürfürsten Wilhelm I. von Hessen-Kassel. Er wurde zum Legationssekretär ernannt. Als solcher nahm er mit dem Grafen Keller am Feldzug gegen Napoleon nach Frankreich teil. In Briefen, vor allem an seinen Bruder Wilhelm, berichtete er über die jeweilige militärische Lage und machte sich zu jener Zeit schon - vielleicht völlig arglose - Gedanken über die künftigen Grenzen Deutschlands. Sie sollten seiner - wie erst die politischen Folgen zeigten - zwar wissenschaftlich gestützten, aber verhängnisvollen Meinung nach entlang der deutschen Sprach- und Volkstumsgrenzen gezogen werden.

 

Seine Überlegungen kreisten nach dem Ende des sogenannten „Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation“ auch schon um eine neue deutsche Reichsverfassung, nach der die Doppelherrschaft des katholischen Österreich (mit dem Elsaß) und den protestantischen Preußen mit den linksrheinischen Gebieten nördlich ab Landau gesichert werden sollte.

 

Grimm, der Sprachwissenschaftler, war der Meinung, daß die Deutschen das linke Rheinufer nicht - wie die Politiker das damals sahen - aus Sicherheitsgründen brauchten, „sondern weil es deutsch ist und deutsch spricht“. (Vgl. 200 Jahre Brüder Grimm - Ihre amtliche und politische Tätigkeit, Kassel 1985, S.56).

 

Grimms besondere Sympathie gehörte in dieser frühen Zeit offenbar Kaiser Franz von Österreich. Und er wünschte sich, daß das deutsche Kaisertum in der großdeutschen Art, wie er sich eine Reichsverfassung konzipiert hatte, erhalten würde. Nach dem Feldzug, der ihn zum ersten mal nach Paris brachte, folgte Grimm dem Hessischen Gesandten am Wiener Kongreß nach Wien. Von dort kehrte er zurück nach Kassel.

 

Bis 1829 blieb Jacob, zusammen mit Bruder Wilhelm, der die Stelle eines schlecht bezahlten Bibliothekssekretärs innehatte, als Zweiter Bibliothekar im Dienste des demokratie-, wissenschafts- und kunstfeindlichen Wilhelm II. von Kassel. In dieser Position oblag ihm auch die Aufgabe eines Zensors. Daß Jacob seinen Pflichten als Zensor nicht gerade mit Eifer nachkam, steht fest, war aber nach Auffassung der Forschung nicht der Grund, daß ihm 1829 vom Kurfürsten die frei gewordene Stelle des Ersten Bibliothekars verweigert wurde. Damit war auch der erhoffte Aufstieg seines Bruders Wilhelm in seine Position ausgeschlos-sen. Die Brüder sahen in der Ablehnung ihrer Bewerbung eine große Mißachtung ihrer bisher geleisteten Arbeit, was - trotz baldiger Gehaltserhöhung - schließlich zum Bruch mit ihrem lange hochverehrten Fürsten führte.

 

Der Bruch mit dem Fürsten war freilich mit keinen großen Risiken verbunden. Längst konnten beide auf eine Reihe von Stellenangeboten zurückgreifen, um ihre materielle Lage und ihren sozialen Status zu verbessern. Sie waren inzwischen zu hohem wissenschaftlichen Ansehen gelangt und beide von der Marburger Universität ehrenhalber promoviert worden. Sogar Heinrich Heine, der Franzosenfreund und Revolutionssympathisant, konnte den beiden eher konservativ und fürstenfreundlich gesonnenen Männern, nachdem er sie auf der berühmt gewordenen Deutschlandreise persönlich kennengelernt hatte, seine Bewunderung nicht versagen. Da ihnen aber ihr Fürst die Anerkennung verweigerte, folgten sie einem Ruf nach Göttingen, wo Jacob als Professor mit Bibliothekarverpflichtungen, Wilhelm als Bibliothekar bis 1837, dem Jahr ihrer Entlassung, arbeiteten.

 

Daß im Jahre 1830, bald nach Amtantritt der Brüder Grimm in Göttingen, in Frankreich erneut eine Revolution ausgebrochen war, scheint Jacobs politische Emanzipation entscheidend vorangetrieben zu haben. Denn schon zu diesem Zeitpunkt schrieb er in einen Brief (vom 29. September 1930) an den Lehrer und Freund der Brüder, den Rechtshistoriker Savigny, daß er unter dem Eindruck der revolutionären Erhebung der Franzosen stärker „den liberalen, wenn Sie so wollen, den revolutionären gesinnungen weniger abgeneigt“ wurde.

 

Jacob wunderte sich selbst darüber, da er doch „von natur und kindesbeinen an der monarchischen und der fürstlichen Sache getreu“ gewesen sei, weil sie „die meiste sicherheit und ruhe gewährt“ und lange Zeit „den Völkern ein glück verschafft hat“.

 

So kam er - wenn wir dem Brief glauben - zu der seinen Wesen völlig widersprechenden Erkenntnis, daß es Augenblicke gibt, „wo man bloß zu handeln hat, ohne rücksicht auf vergangenheit oder zukunft“.

 

Mit großem Interesse verfolgten die Brüder von Göttingen aus die Verfassungskämpfe in Hessen. Schon deshalb, weil ihr Schwager, der aus Hanau stammende und ebenfalls in Kassel lebende Ludwig Hassenpflug, der vorher Ober-Appelationsgerichtsrat war, im März 1832 Ministerialrat und Mitglied des Gesamtministeriums, sozusagen zum Justiz- und Innenminister ernannt worden war. Er erhielt im Mai mit dem Geheimratstitel die beiden Ministerien der Justiz und des Inneren unterstellt. Er entwickelte sich von da an zum Schrecken der hessischen Studentenbewegung und Intellektuellen, die ihn als „Hessenfluch“ verdammten. Im Brockhaus von 1894 heißt es, seine Verwaltung sei ein unausgesetzter Versuch gewesen, den Absolutismus der Regierungsgewalt wieder herzustellen.

 

Interessanterweise blieb Hassenpflug, trotz seiner unerbittlichen Härte gegen Oppositionelle, den Brüdern seiner Frau, gewogen. Denn obgleich sich Anzeichen von Spannungen zwischen Hassenpflug und den Grimms finden, kam es doch – soweit bekannt - nie wegen politischer Gegensätze zu Zerwürfnissen zwischen ihnen. Nun war ja auch Jacob 1833 vom Universitätskuratorium der Göttinger Universität zum Hofrat ernannt worden, was dem Todfeind des Konstutionalismus anzeigte, daß Jacob von den revolutionären Ideen seiner Zeit sehr weit entfernt sein mußte. Hinzu kam: Die beiden Grimms lebten, wenn auch nicht weit von Kassel entfernt, im „Ausland“. Sie wohnten im Hannoverschen Göttingen, das damals dem großbritannischen Thron unterthänig war.

 

Schwager Hassenpflug wäre aber spätestens 1837, wenn er zu dieser Zeit noch sein Amt innegehabt hätte, den Brüdern mit Mißtrauen begegnet und hätte ihnen - wie allen anderen, die der Fürstenwillkür Widerstand entgegensetzten - das Leben zur Hölle gemacht. Aber eben zu dieser Zeit sah sich Hassenpflug wegen schwerwiegender Differenzen mit dem Hof veranlaßt, aus Hessen wegzugehen. 1837 erhielt er seine Entlassungsurkunde. Über einige Umwege erhielt der Schwager der Grimms 1841 eine Stelle in Berlin. Er wurde Mitglied des Obertribunals, später Präsident der Oberlandgerichts Greifswald.

 

Es wäre ein eigenes Thema, die Rolle Hassenpflugs während der 48er Revolution zu untersuchen. Nur so viel sei hier gesagt: Die Verwicklung in einen Korruptionsfall, der aber zum Freispruch führte, veranlaßte Hassenpflug im Jahre 1850, seine Berliner Stellung aufzugeben. Er folgte danach dem Ruf des Kurfürsten von Hessen und kehrte nach Kassel zurück. Noch am selben Tag wurde das Märzministerium entlassen und Hassenpflug an die Spitze der Verwaltung berufen. Er eröffnete sofort wieder seinen reaktionären Kampf, trieb es dabei aber so weit, daß die liberalen Stände das politische Kampfmittel des Steuerstreiks einsetzten, für das Wilhelm Schulz, von dem weiter unten die Rede sein wird, Zeit seines Lebens eintrat. So kam es, daß unmittelbar nach dem Ende der 1848er Revolution über Hessen der Kriegszustand verhängt wurde und daraufhin etwas in der deutschen Geschichte Einmaliges geschah, daß 241 von 277 Offizieren zurücktraten.

 

Der Kurfürst und sein Minister mußten ihren Amtssitz vorübergehend nach Wilhelmsbad (bei Hanau) verlegen. Von dort riefen sie den reaktionären Bundestag an und ließen zur Exekution ihrer Repressionspolitik österreichiche und bayrische Truppen ins Land einrücken. Als es Hassenpflug selbst nach diesen Ereignissen nicht gelang, die von seinem Landesfürst oktroyierte Verfassung durchzusetzen, sah er sich 1855 genötigt, um seine Entlassung zu bitten.

 

Während dieser Krise versuchte Jacob Grimm, der dem Treiben seines Schwagers zwar ohne öffentlichen Protest, aber offensichtlich doch mit großem Unbehagen zusah, sich über seine langjährigen freundschaftlichen Beziehungen zum damaligen Außenminister von Radowitz, dem vormaligen Anführer der äußersten Rechten im Paulskirchenparlament, für die entlassenen Offiziere einzusetzen.

 

Es ist trotz zahlreicher Anhaltspunkte äußerst schwierig, Jacob Grimms politischen Standort zu ermitteln. Zwar hatte ihn das Leuchtfeuer der Französischen Revolution von 1830, als es sein Licht über Deutschland warf, veranlaßt, dem liberalen und revolutionären Gedankengut des Bürgertums weniger abgeneigt gegenüber zu stehen, doch blieb er seinem höfischen, zum Teil reaktionären, Freundeskreis und dem Konstitutionalismus treu. Er blieb immer ein entschiedener Gegner der Republik und der Linken, auch der gemäßigten. Aber er scheute sich andererseits nicht, gelegentlich auch Ansichten zu vertreten und Entscheidungen zu treffen, die - zumindest vordergründig - geradezu radikaldemokratisch wirkten.

 

So war es, als sich Jacob Grimm in Göttingen dazu entschloß, den rebellischen Professoren beizutreten, die sich im November 1837 als die „Göttinger Sieben“ weigerten, dem von ihnen auf die Hannoversche Verfassung von 1833 abgelegten Eid zu brechen, wie es Herzog Ernst August, nachdem er König von Hannover geworden war, selbst tat und auch von seinen Beamten verlangte.

 

Die Grimms nahmen Berufsverbot und Landesverweis in Kauf, um sich treu zu bleiben. Da aber Berufsverbot und Landesverweis in der Regel Demokraten traf, standen die beiden plötzlich - obgleich selbst deren entschiedener Gegner, mit den Demokraten in der gleichen Reihe.

 

Ernst August hatte bei seiner Thronbesteigung die freisinnige Verfassung von 1833 für unbrauchbar erklärt und die den Karlsbader Beschlüssen nachgeformte von 1819 - mit Vorbehalt einiger kleiner Änderungen - erneut in Kraft gesetzt. Die sieben Professoren, die nun auf diese reaktionäre Verfassung vereidigt werden sollten, lehnten dieses Verlangen als Verfassungsbruch ab, wurden daraufhin ihrer Ämter enthoben und Jacob Grimm - zusammen mit Dahlmann, Gervinus und anderen, damals alle ebenfalls schon längst berühmte Wissenschaftler - sogar außer Landes verwiesen.

 

Für Jacob Grimm freilich bedeutete dieser Landesverweis nur die Rückkehr nach Hessen, nach Kassel. Der Bruder folgte ihm aus Solidarität. Aber allein schon wegen der drückenden Zustände dort konnten und wollten sie nicht bleiben. Als Friedrich Wilhelm IV. im Juni 1840 den preußischen Thron bestieg und sich eine liberalere Ära anzubahnen schien, gingen Jacob und Wilhelm Grimm - protegiert von einflußreichen Freunden und Gönnern wie Bettina von Armin - nach Berlin. Sie hatten sich ihr Leben lang mit Sprache, Literatur und Rechtsgeschichte befaßt, hier konnten sie sich - neben vielen anderen, eher zur „Krämerseite“ des Lebens gehörenden unanggenehmen Verpflichtungen - wieder ihren wissenschaftlichen Interessen widmen und außerdem den Umgang mit anderen berühmten Gelehrten pflegen, auch alten Freunden.

 

In diesem Zusammenhang kam es zu einer Affäre, die dem Ansehen der Grimms beträchtlich schadeten. Zum 59. Geburtstag Jacobs, im Jahre 1844, zu dem auch sein Freund Hofmann von Fallersleben zu Gast war, sangen - wieder einmal - Fackeln tragende Studenten auf der Straße Lieder wie: „Freiheit die ich meine“. Als sich Jacob gerührt bedankte, entdeckten und erkannten die Studenten den berühmten Dichter, der ein Jahr zuvor wegen seiner „Unpolitischen Lieder“ ohne Pensionsanspruch von seiner Professur für Sprache und Literatur in Breslau suspendiert und mit Berufsverbot belegt worden war. Die Studenten ließen den beliebten Falllersleben hochleben und dieser ging zu den Studenten auf die Straße, um sich zu bedanken.

 

Die allgegenwärtigen Ordnungshüter betrachteten dies als einen regierungsfeindlichen Akt und verwiesen den Freund der Grimms aus der Stadt. Diese aber distanzierten sich von Fallerslebens Auftritt, obgleich ihnen nichts hätte passieren können, wenn sie sich schützend vor ihren Freund gestellt hätten. Sie wurden daher in der Presse angegriffen. Hofmann von Fallersleben war zutiefst gekränkt. Er hatte, als die Grimms Berufsverbot erhielten, das Spottgedicht „Knüppel aus dem Sack“ für sie geschrieben und es nun, in seiner inkriminierten Liedersammlung, die ihn die Stellung gekostet hatte, an die Spitze gestellt. Die Grimms rechtfertigten sich und klagten von Fallersleben öffentlich an, ihre Gastfreundschaft mißbraucht zu haben. Dennoch brachten ihre Freunde kein Verständnis auf.

 

Ihrem Ruhm in der Bevölkerung tat dieser Skandal jedoch keinen erkennbaren Abbruch. Und da Jacob Grimm nicht nur berühmt war, sondern seine - wenn auch noch so abgeschieden betriebene - Sprachwissenschaft immer als Beitrag zur Entwicklung einer „richtigen“ nationalen Politik verstand, verwundert es nicht, daß er zum Mitglied der ersten deutschen Nationalversammlung gewählt wurde.

 

In der Paulskirche kreuzte sich sein Lebensweg mit dem von Wilhelm Schulz. Allerdings gehörten die beiden nicht der gleichen politischen Richtung an. Die Gemeinsamkeiten, die sich in ihrem Lebensweg und Zielen durchaus finden, boten offensichtlich beiden nicht genügend Grund, persönliche Kontakte miteinander aufzunehmen. Der Hofdemokrat Grimm blieb immer überzeugter Monarchist. Er hatte an dem republikanisch gesonnenen Propheten eines kapitalistischen Wohlfahrtsstaats wenig Interesse. Schulz mochte Fürstenknechte nicht, auch wenn sie ansonsten respektable Persönlichkeiten waren.

 

3. Wilhelm Schulz - der Prophet des kapitalistischen Wohlfahrtsstaats

Schulz stammte aus Darmstadt - das heißt - mit Blick auf seine „Staatsangehörigkeit“ - aus Hessen-Darmstadt, von den politisch verfolgten Demagogen als „Darmhessen“ etikettiert. Er war Lutheraner, hatte vorzeitig - nicht wie Grimm - die Uni wegen familiärer Not, sondern wegen Schwierigkeiten mit seinen Lehrern - das Gymnasium verlassen und schlug schon als 14jähriger die Offizierslaufbahn ein. Krönender Abschluß seiner Ausbildung zum Offizier war, daß er - als Angehöriger der „Rasse der Honoratioren“ Darmstadts, wie er sich selbst bezeichnete - zur Universität des Großherzogtum, nach Gießen, geschickt wurde, wo er mathematische und naturwissenschaftliche Vorlesungen besuchte.

 

Er wurde im Alter von 16 Jahren Leutnant und kämpfte - weil das Großherzogtum Hessen dem Rheinbund angehörte - zunächst auf der Seite Napoleons gegen die „Heilige“ Allianz der Reaktion. Der Sieg der Allianz in der Völkerschlacht bei Leipzig, von den meisten Deutschen bis heute als Höhepunkt des „Befreiungskrieges“ gefeiert, war für Schulz, der daran teilgenommen hatte - rückblickend - „der Tag, an dem die Freiheit geschlachtet wurde“. (Grab, S.22) Hessen-Darmstadt wechselte nach dem Rückzug der Franzosen die Front, so daß Schulz nun gegen Napoleon kämpfen und ihm bis Lyon und Grenoble folgen mußte.

 

In der Zeit, als Jacob Grimm als Legationsrat am Wiener Kongreß teilnahm, wurde Schulz vom Militär beurlaubt und ging zur Fortsetzung seines mathematischen Studiums wieder nach Gießen. Außerdem befaßte er sich jetzt mit den Kriegswissenschaften. Als 1815 Napoleon von Elba floh und nach Frankreich zurückkehrte, mußte Schulz noch einmal an einer Schlacht, diemal bei Straßburg, gegen die Franzosen teilnehmen. Danach kehrte er nicht mehr nach Gießen, sondern in seine Garnison nach Darmstadt zurück und entwickelte sich dort zu jenem radikaldemokratischen Rebellen, der zweimal in Festungshaft und zweimal ins Exil ging.

 

Von seinen aus rebellischen Beamten bestehenden hessischen Vorfahren einmal abgesehen, spielten bei dieser Entwicklung seine Kontakte mit studentischen Revolutionären an der Universität Gießen, vor allem mit Karl Follenius, eine ausschlaggebende Rolle. Follen, wie er sich später nannte, war zweifellos eine der bedeutendsten, einflußreichsten und problematischsten Persönlichkeiten der deutschen Burschenschafts-bewegung. Er war der Anführer der nach ihrer Kleidung benannten „Gießener Schwarzen“, deren harter Kern sich als die „Unbedingten“ bezeichnete. Ihre Mitglieder hatten der herrschenden „Ordnung“ den unbedingten Kampf angesagt. Follen war Anhänger Rousseaus und der Jakobiner und hatte sich sein Weltbild aus einem - wie Walter Grab es zusammenfaßt (S.27) - „Konglomerat von jakobinisch-kosmopolitischen, aufklärerisch-rationalistischem Ideengut einerseits und romantisch-irrationalem Mystizismus andererseits“ zusammengesetzt. Jeder, der dem Theologiestudenten Follen und späteren Rechtsgelehrten begegnete, war von dessen „gottähnlichen Vaterfigur“ beeindruckt und entdeckte an ihm entweder den deutschen Patrioten oder den Sozialrevolutionär, ja sogar den potentiellen terroristischen Gewalttäter. Zweifellos hat Follen entscheidend dazu beigetragen, daß es in der Studentenschaft zu Ausschreitungen kam und die Universität Gießen in der Geltungszeit der Karlsbader Beschlüsse (von 1919 bis zum 2. April 1848) ein Nest des demokratischen und national- und sozialrevolutionären Widerstands gegen Fürstenwillkür wurde.

 

Auch Georg Büchner, der mit einem entfernten Verwandten von Schulz, mit Rektor Weidig, den berühmten „Hessischen Landboten“ verfasste, studierte in Gießen und war von dem dort herrschenden Geist beeinflusst. Mit Büchner traf Schulz sich allerdings erst Jahre später, nämlich 1835 im Straßburger und dann, 1836, im Schweizer Exil zusammen, wo sie sogar eine besondere Freundschaft schlossen. Wie Schulz Jahre zuvor, erfuhr auch Georg Büchner seine politische Radikalisierung in den revolutionären Studentenzirkeln der Gießener Universität. Aber bleiben wir noch bei Follen.

 

Neben fortschrittlichen Gedanken finden sich in dessen Lehre - zum Beispiel in seinem Entwurf einer Verfassung - auch gefährliche Elemente mittelalterlich-reaktionärer Politikvorstellungen. So sollten der zu gründende deutsche Nationalstaat von der Kirche nicht getrennt sein. Deutschland wäre danach zu einem fundamentalistischen Gottesstaat gemacht geworden. Um den für die Nationalstaatsbildung so hinderlichen Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus zu überwinden, sollten sich nach Follen alle Glaubensakten, so in § 10 seines Verfassungsentwurfs, „in eine christlich-teutsche Kirche“ auflösen. Andere „Glaubenslehren, welche den Zwecken der Menschheit zuwider sind, wie die jüdische, welche nur eine Glaubensart ist, werden in dem Reiche nicht geduldet.“

 

Die von Luther her religiös begründete Judenfeindschaft Fichtes, Arndts und Jahns, die sich auch bei Follen findet, bedeutete faktisch, daß im künftigen deutschen Nationalstaat die Juden entweder der Zwangstaufe unterworfen oder ausgewiesen werden mußten, oder aber, was 100 Jahre später bei Hitler zum Programm seines nun nicht mehr religiös, sondern rassistisch begründeten Nationalstaates wird, die Juden mußten ausgerottet werden.

 

Auch Wilhelm Schulz war von Follen fasziniert, übernahm jedoch weder dessen fragwürdiges Christgermanentum noch in dieser weitgehenden Form dessen politisch-romantische Deutschtümelei, auch nicht dessen antiaufklärerisches und antifranzösisches Ideengut. Der bürgerliche Aufklärer Schulz verzichtete außerdem auf den Judenhaß (von dem er nur einmal in seinem Leben für eine kurze Zeit befallen wurde) und teilte auch nicht Follens Glauben an die allen anderen Völkern überlegene Sittlichkeit der Deutschen.

 

Follen sympathisierte, ohne es offen zu artikulieren, mit dem Tyrannenmord, mit terroristischen Anschlägen, um der deutschen Einheit den Weg zu ebnen. Einer der ergebensten Anhänger Follens, Karl Ludwig Sand, ermordete bekanntlich den als Verräter der deutschen Interessen verdächtigen „Fürstenknecht“, den Dichter August von Kotzebue. Kurz darauf verübte der ebenfalls mit den „Gießener Schwarzen“ in Verbindung stehende Idsteiner Apotheker Karl Löning einen - allerdings mißglückten - Mordanschlag auf den Nassauischen Regierungspräsidenten Karl Friedrich von Ibell. Löning nahm sich in Gefangenschaft das Leben.

 

Diese politischen Extremisten, die in der damaligen Gesellschaft weitgehend isoliert waren - kamen Metternich für seine Politik gelegen. Denn die allgemeine Empörung über diese Verbrechen lieferte ihm die Legitimation und die notwendigen Argumente zur systematischen Zerschlagung der nationalen und sozialrevolutionären Burschenschaften und zur Bekämpfung aller übrigen politischen Bestrebungen, die Einheit und Freiheit der Deutschen auch gegen den Willen der Obrigkeiten herzustellen und für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen.

 

Schulz war zwar von Follen beeindruckt, sympathisierte aber mit der zu seiner Zeit schon „alten“ jakobinischen Tradition, die es - weil sie der Aufklärung verbunden, also auch für Trennung von Staat und Kirche war - darauf angelegt hatte, kritische Pamphlete zur Volksaufklärung zu verfassen. Sein 1818 anonym gedrucktes und verbreitetes „Frag- und Antwortbüchlein“ zeigt die Richtung, die von Verschwörungstheorien und der Propagierung individuellen Terrors wegführt, die soziale Frage vor die nationale stellt und den Weg bereitet, der 1834 von Georg Büchner und Ludwig Weidig mit ihrem „Hessischen Landboten“, dann von Karl Marx in seinen Frühschriften von 1844, zuletzt 1848 zusammen mit Friedrich Engels, mit dem „Manifest der Kommunistischen Partei“, auf einer jeweils höheren Stufe sozialrevolutionärer Radikalität fortgesetzt wurde.

 

Schulz und der 21 Jahre jüngere Dichter Georg Büchner lernten sich 1835 im Straßburger Exil näher kennen. Der „Hessische Landbote“ knüpfte ohne Zweifel an die Tradition von Schulzens Denken an. Auch Büchner und sein Butzbacher Ko-Autor Weidig lehnten den individuellen Terror und den militanten Aktionismus kleiner Gruppen ab. Im Zusammenhang mit den Erfahrungen jener Studenten, die vergeblich die Frankfurter Hauptwache gestürmt hatten, schrieb Büchner 1833 in einem Brief: „Soll jemals die Revolution auf eine durchgreifende Art ausgeführt werden, so kann und darf das bloß durch die große Masse des Volkes geschehen, durch deren Überzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam erdrückt werden müssen. Es handelt sich also darum, die große Masse zu gewinnen.“

 

Doch kehren wir zu Schulz zurück. Wegen seiner aufklärerischen Schriftstellerei und seiner sozialrevolutionären Reden geriet der Gardeleutnant sehr bald in große Schwierigkeiten. Es dauerte nur etwas mehr als ein halbes Jahr, bis die Behörden Anfang Oktober 1919 auf ihn stießen und er die Autorenschaft des „Frag- und Antwortbüchleins“ freimütig gestand. Im Oktober 1820 wurde er wegen Hochverrat, Aufreizung zum Aufruhr und Beleidigung öffentlicher Autoritäten vor ein Kriegsgericht gestellt. Er war Offizier. Man hatte ihm zwar einen guten Anwalt erlaubt, aber der Inquisitionsprozeß fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Schulz wurde, nicht zuletzt aus Rücksicht auf die in dieser Zeit zwischen dem Großherzog und den Landständen getroffene Vereinbarung eine landständischen Konstitution, freigesprochen. Allerdings hatte er bis zu seiner Freilassung neun Monate im Gefängnis gesessen. Da der erzkonservative Sohn des Großherzogs nun Schulz’ Entlassung aus dem „ehrenvollen Stand hessischer Krieger“ betrieb, kam der verdächtige Demagoge dieser Maßnahme zuvor. Mit einem Gehalt von 350 Gulden im Jahr wurde der Freigesprochene und am 1. November 1820 auf eigenen Wunsch in den Ruhestand versetzt.

 

Schulz ging nun wieder an die Universität Gießen und studierte Rechtswissenschaften. Im November 1823 machte er sein Staatsexamen, wurde aber nicht als Gerichtsreferendar zugelassen, wodurch ihm der Zugang zum Anwaltsberuf verstellt wurde. Berufsverbot. Immerhin war es der Hessische Staatsminister Karl von Grolmann, der ihm den Rat erteilte, Schriftsteller zu werden. Schulz arbeitete zunächst als Journalist, veröffentlichte aber in unregelmäßigen Abständen immer wieder politische Aufsätze, die von seiner gründlichen theoretischen Arbeit und historischen Weiterbildung zeugen. Doch in seinem verständlichen Bemühen, sich von Karl Follen und Genossen zu distanzieren, verriet er nicht nur die Französische Revolution, er geriet auch unversehens in die Nähe der Herrschaften, die ihn bisher gejagt, gedemütigt und um seinen Beruf gebracht hatten. Er kroch zu Kreuze. Zwanzig Jahre später erst entschuldigte er sich für seine Entgleisungen.

 

Im Jahre 1828 wurde er Herausgeber eines „Montagsblatts“. Hierin veröffentlichte er eine Reihe von Aufsätzen, die sich fast vollständig auf statistisches Material stützten und die für seine künftige wissenschaftliche Publizistik charakteristisch waren. Er kam immer entschiedener zu der Überzeugung, daß mittels statistischer Methoden die objektiven, von Willkür und Zufall unabhängigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen nachgewiesen werden können. Die Wellen, die die Französische Revolution von 1830 in ganz Europa schlug, ließen Schulz nicht unberührt. Eine schlecht bezahlte Anstellung als Redakteur bei Cotta, vor allem eine positive Heine-Rezension, brachte ihn in Schwierigkeiten und er kehrte aus München nach Darmstadt zurück, zumal ihm die Darmstädter Regierung seine Rente nicht über die Staatsgrenze hinaus zu zahlen bereit war. Im Jahre 1832 wurde er von der Universität Erlangen promoviert. Thema seiner Dissertation: „Das zeitgemäße Verhältnis der Statistik zur Politik.“ Noch bevor er seinen neu in Aussicht gestellten Posten als Redakteur der Zeitschrift „Hesperus“ antreten konnte, kam es schon mit dem Verleger zum Zerwürfnis, weil Cotta ihm untersagte, einen Artikel zu publizieren, der die Landstände aufrief, von ihrem Recht auf Steuerverweigerung Gebrauch zu machen. Kurz darauf wurde Schulz auf polizeiliche Anordnung mit seiner Frau aus Württemberg ausgewiesen. Begründung: „Man hat schon genug Oppsotion im Lande.“ Er kehrte nach Darmstadt zurück.

 

Im Jahr 1832 kam es zu zahlreichen als „Volksfeste“ deklarierten politischen Demonstration, dessen größtes und bedeutendstes das Hambacher Fest war. Schulz war zwar schon vorher als Redner aufgetreten, aber auf dem Hambacher Fest ergriff er nicht das Wort. Schulz sprach am 31 Mai in Bergen und am 22. Juni in Wilhelmsbad bei Hanau.

 

Das Wilhelmsbader war neben dem Hambacher Fest eine der mächtigsten Demonstrationen überhaupt. Acht bis zehntausend Teilnehmer hatten sich dort versammelt. Neben einer Reihe anderer Redner verschiedenster Ansichten, sprach auch Wilhelm Schulz. Hatte der Heidelberger Student Brüggemann als Republikaner zum Volksaufstand aufgerufen und den Massen nahegelegt, die Aristokraten notfalls, wenn es nicht anders ginge, „an die Laterne“ zu hängen, denn auf die Wohlhabenden und Reichen sei kein Verlaß, blieb Schulz auf dem Boden des „Machbaren“. Er warnte vor der Reaktion, die der Volksbewegung nicht lange tatenlos zusehen, sondern „im Dunkel der Kabinette schon gemeinsame Maßregeln“ verabreden und das „mit so schweren Opfern Errungene“ wieder zunichte machen werde.

 

In diesem Fall sollten die Bürger die gewählten Ständekammern einberufen, falls die Regierungen sich weigerten, sei dies Vertragsbruch und müsse mit Steuerverweigerung beantwortet werden. Wichtig war ihm mitzuteilen, daß es in diesem Falle nicht genüge, den Widerstand gegen Verfassungsbrüche bloß in den Grenzen der „erlauben Notwehr“ zu leisten, sondern ihn so zu koordinieren, „daß er auch den genügenden Erfolg verbürge“.

 

Er forderte die Opposition in den diversen landständischen Parlamenten auf, „zu allseitiger Verständigung in engeren, freundschaftlichen Verkehr zu treten“. Schulz sollte Recht behalten. Schon wenige Tage später rollte eine Welle der Reaktion über Deutschland, die alle demokratischen Träume wie Seifenblasen zum Platzen brachte.

 

Unmittelbar nach dem Hambacher und dem Wilhelmsbader Fest war das bedeutendste Ereignis des Vormärz der „Sturm auf die Hauptwache“ in Frankfurt am Main. Sie zog eine neue Welle der „Demagogenverfolgung“ nach sich, der auch Schulz zum Opfer fiel. Wegen einer Veröffentlichung mit dem Titel „Rechnung und Gegenrechnung“, die heute von den Verfechtern des schlanken Staates gründlich studiert werden sollte.

 

Er hatte als sparpolitische Maßnahme nichts Geringeres als die Abschaffung des Adels und des stehenden Heeres gefordert, dazu die Reduzierung des Beamtentum. Und er hatte vorgerechnet, daß man mit dem eingesparten Millionen wahre sozialpolitische Wunder vollbringen könne. So wurde Schulz verhaftet und angeklagt, das „Verbrechen der Majestätsbeleidigung und der beleidigten Amtsehre der Staasbehörden“ begangen zu haben.

 

Da der Publizist noch seine Offizierspension bezog, wurde er - obgleich längst Zivilist - vor das Darmstädter Kriegsgericht gestellt. Das Urteil: Fünf Jahe Festungshaft in Babenhausen, Entzug der Pension und Beschlagnahmung mehrerer Schriften. Aber schon vom 30. auf den 31. Dezember 1834 war er wieder frei. Eine von seiner Frau Caroline sorgfältig vorbereitete unglaubliche Befreiungsaktion führte tatsächlich zum Erfolg. Eines der Mitglieder der von Georg Büchner in Gießen und Darmstadt gegründeten „Gesellschaft der Menschenrechte“, die sich auch die Befreiung politischer Gefangener im Großherzogtum Hessen vorgenommen hatte, versteckte den Flüchtling. Von dort floh er zu Fuß ins Elsaß und lebte ein halbes Jahr, bis Juli 1835, in Straßburg.

 

In dieser Zeit mußte auch Georg Büchner aus Gießen fliehen. Zuerst entwich er nach Darmstadt, wo seine Eltern lebten, von da floh er nach Straßburg. Dort hatte er schon zwischen 1831 und 1833 Medizin studiert, sich verlobt, und war lediglich pflichtgemäß nach Gießen zurückgekehrt, um sein Studium abzuschließen. Statt sich jedoch auf sein Examen vorzubereiten, gründete er konspirative Menschenrechtsgruppen und verfaßte den „Hessischen Landboten“. Die Aktion wurde verraten und Büchner mußte - wie viele andere auch - Hessen wieder verlassen, um einer lebensbedrohenden Kerkerhaft zu entkommen..

 

In Straßburg lernten sich das Ehepaar Schulz und Büchner kennen, kurz bevor Schulz wegen diplomatischer Rücksichten ausgewiesen wurde. Im Oktober 1836 waren die Darmstädter Freunde in Zürich wieder vereint. Beide hatten eine Professur an der 1833 gegründeten Zürcher Universität erhalten, Schulz für „Statistik und allgemeine Verfassungskunde“, Büchner für „Anatomie“. Sie wohnten sogar im selben Haus auf derselben Etage.

 

Die beiden Sozialrevolutionäre, der Verfasser des „Frag- und Anwortbüchlein“, der die bürgerliche Revolution bejahte, und der Verfasser des „Hessischen Landboten“, der schon das Proletariat im Auge hatte, verkörpern den zwischen den Karlsbader Beschlüssen und ihrer Neuauflage nach dem Sturm auf die Hauptwache im Jahre 1833 liegenden politischen Fortschritt in Deutschland.

 

Schulz war zum entscheidenen Sozialreformer geworden, der glaubte, die Klassengegensätze zwischen Reichen und Armen friedlich zum Ausgleich bringen zu können, der überzeugt war, daß durch einen sozialen und demokratischen Staat, der für eine gerechtere Verteilung der Arbeitsergebnisse sorgt, die kommunistische Revolution verhindern zu können.

 

Der 16 Jahre jüngere Büchner ist dagegen schon seit seinem ersten Straßburger Aufenthalt mit frühkommistischen Vorstellungen vertraut und bejaht die Vorstellung einer sozialistischen Revolution, allerdings nur unter der Bedingung, daß sie auch von den Massen der Armen getragen würde.

 

Büchner anerkannte die neue wissenschaftliche Methode seines Freundes Schulz, mit Hilfe der Statistik und ihrer Interpretation die Massen besser und objektiver als mit jedem anderen Mittel aufklären zu können, aber er versuchte dies - zum Beispiel im „Landboten“ - nicht mit dem Ziel, die Revolution zu verhindern.

 

 Als Büchner im Februar 1837 schwer erkrankte, wurde er bis zu seinem Tod von Caroline, der Frau von Schulz, gepflegt. Wie Büchner von Schulz, so wurde auch Schulz von Büchner sehr stark inspiriert. Schulz erkannte die große dichteriche Begabung seines jungen Freundes. So ist es – neben seinen später berühmt gewordenen Geschwistern - auch ihm zu verdanken, daß der im Exil gestorbene Büchner als Dichter nicht vergessen und - wenn auch sehr spät - als einer der größten deutschen „naturalistischen“ Dramatiker entdeckt und anerkannt wurde.

 

Nur vier Tage nach Büchner Tod, am 23. Februar 1937, starb nach zweijähriger Untersuchungshaft und Folter Büchners Mitstreiter, der Rektor der Butzbacher Lateinschule, Ludwig Weidig, im Darmstädter Gefängnis. Es war ein mysteriöser Tod. Offizielle Verlautbarung: Selbsttötung? Schulz sammelte alle Dokumente zu Weidigs Gefängnisaufenthalt und ließ auch Gutachten erstellen, um diesen Tod und die Schuld der Justiz aufzuklären. Er entfachte spätestens seit 1843 eine Kampagne, die in ganz Deutschland die Gemüter bewegte und Empörung gegen das System der politischen Inquisitionsverfahren und Geheimjustiz hervorrief.

 

Schulz hatte schon 1839 seine Züricher Professur wieder aufgegeben und sich ganz seiner publizistischen Tätigkeit gewidmet. Damit legte er von seinem Schweizer Exil aus den Grundstein für seine Wahl als Abgeordneter des Frankfurter Paulskirchenparlaments.

 

Schulz kämpfte aber nicht nur gegen die deutsche Geheimjustiz und Reaktion bis zum Beginn der 48er Revolution, sondern er schrieb zuvor auch noch sein bedeutendstes Werk, nämlich „Die Bewegung der Produktion“. Die Bedeutung dieses Werks zeigt sich aus heutiger Sicht daran, daß es Karl Marx entscheidend dabei half, zu seiner neuen politischen Ökonomie und Gesellschaftsanalyse vorzudringen. Denn das Buch enthielt in seinem ersten Teil, der von der „materiellen Produktion“ handelt, alle wesentlichen Gründzüge der Theorie, die später unter dem Namen historischer Materialismus Geistes- und Politikgeschichte machen sollte.

 

Der Historiker Walter Grab (Tel Aviv) hat in seinem Standardwerk über Wilhelm Schulz nachgewiesen, daß dessen 1843 in Zürich erschienenes Werk über die „Bewegung der Produktion - Eine geschichtlich-statistische Abhandlung“ zu einer sehr wichtigen Inspirationsquelle von Karl Marx geworden ist. Marx selbst exzerpierte Schulz sehr ausführlich und nahm die Exzerpte in seinen Frühschriften auf. Und selbst im Kapital (Band 1) wird noch auf dieses Werk verwiesen. Marx nennt es „Eine in mancher Hinsicht bemerkenswerte Schrift.“(S.392)

 

In dieser Schrift wurde schon die Marxsche Akkumulation und Konzentrationstheorie vorformuliert, es wurden die Ursachen der Überproduktion und der mit ihr einhergehenden Arbeitslosigkeit erklärt, die Folgen der Konkurrenz und der Monopolisierung aufgezeigt. Und Schulz rechtfertigte auch die Opposition der Industriearbeiter gegen die besitzenden Gesellschaftsklassen. Was er freilich ablehnte, war die revolutionäre Gewalt der unteren, der nicht besitzenden Klassen gegen das Privateigentum an Produktionsmitteln. Erst Marx und Engels , ohne jedoch die Überzeugung von Schulz zu teilen, durch eine breit angelegte Sozialgesetzgebung, durch staatliche Kontrolle zur Eindämmung marktwirtschaftlicher Auswüchse, durch Mitbestimmung und Gewinnbeteiligung, letztere eine Erfindung von Schulz, aber auch durch Teilhabe der besitzlosen Menschen am öffentlichen Leben, durch Volksaufklärung, staatliche Förderung der Volksbildung, der schulischen Erziehung, der Wissenschaften und Künste seien die Interessengegensätze soweit zu verringern, daß eine soziale Revolution vermieden werden könne.

 

Walter Grab über Schulz: Diese Konzeption machte ihn zu einem der Väter des Reformismus und des Staatskultes.“ (S. 226)

 

Marx ließ sich von Schulzens Seitenhieben gegen die kommunistischen Doktrinäre, die vor allem im zweiten Teil des Buches, über die geistige Produktion, verstärkt verteilt werden, nicht irritieren. Er erkannte, daß Schulz einen neuen Weg zur Erklärung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse gefunden hatte und übernahm diesen methodischen Ansatz, ohne den zweiten Teil der „Bewegung der Produktion“ auch nur eines kritischen Wortes zu würdigen.

 

II. Persönlichkeiten und Geschichte

Grimm und Schulz als Volksvertreter.

Grimm und Schulz waren Persönlichkeiten, in denen sich die großen historischen Tendenzen mit allen ihren Widersprüchen wie in einem Brennglas bündelten. Deshalb ist es wichtig zu betonen, daß die objektiven sozioökonomischen Verhältnisse einer Epoche und Gesellschaft für die Erklärung der darin stattfindenden politischen Ereignisse zwar grundlegend sind, aber zum besseren und vertieften Verständnis von Geschichte auch die Menschen gehören, die diesen Verhältnissen, allerdings auch den Irrtümern und Hoffnungen ihrer Zeit, mit historischem Bewußtsein Ausdruck und Form verleihen, die ihre Epoche intensiver als andere erleben, begreifen, deuten und auch zu beeinflussen, zu ändern versuchen.

 

Als Mitglieder der ersten Deutschen Nationalversammlung sind - wie eingangs angedeutet - Grimm und Schulz von eher mittelmäßigem Interesse. Sie haben zwar wichtige Anträge gestellt und auch inhaltlich bemerkenswerte Redebeiträge geliefert, aber ansonsten haben sie nicht aus der Masse der übrigen Abgeordneten herausgeragt. Hier unterscheiden sie sich kaum vom Hanauer Wahlkreisvertreter, dem Tabakfabrikanten Ludwig Rühl, der mit einem gut begründeten Antrag - aber erfolglos - die Nationalversammlung zur Selbstauflösung und zur Neuwahl bewegen wollte. Mit Recht hegte Rühl Zweifel, ob die Abgeordneten noch das Volk repräsentierten. Er wollte es nur festgestellt wissen.

 

Was aber Grimm und Schulz - rückblickend - vor den meisten anderen hessischen und nicht-hessischen Parlamentariern auszeichnete, war, wie ich zu zeigen versucht habe, daß sie - trotz ihrer weitgehend entgegengesetzten Denk- und Handlungsweisen - schon 1848 Persönlichkeiten der deutschen National- und Sozialgeschichte gewesen sind, in deren Biographie - wenn man sie im Kontext mit den sozialökonomischen Verhältnissen und den sich wandelnden Bewußtseinslagen der Stände und Klassen der damaligen Gesellschaft sieht - sich geradezu idealtypisch die Widersprüche der Vorgeschichte und der Revolution von 1848 sowie die subjektiven Ursachen des Scheiterns der ersten deutschen Nationalversammlung in hohem Maße greifbar und begreiflich machen lassen.

 

Überspitzt formuliert: Jacob Grimm kann als eine frühe, daher noch nicht enthumanisierte, Verkörperung der späteren mystifizierend-deutschtümelnd- nationalistischen und expansionistischen Volksgemeinschaftsidee betrachtet werden. In seiner Rückwärtsgewandtheit lieferte er - guten Glaubens - jenen völkischen Ideologen eine wissenschaftliche Vorlage, die mit dem unaufhalt-samen Vordringen der international orientierten sozialistischen Demokratie immer entschiedener die nationalsozialistische Volksgemeinschaftsideologie setzten. Sein mittelalterlicher Freiheitsbegriff, der objektiv auf einer falschen – ahistorischen - Deutung des Mittelalters beruhte, hatte mit dem Freiheitsbegriff der großen Französischen Revolution nichts zu tun. Er lieferte, ohne dies zu beabsichtigen, sozusagen aus politischer Naivität, der deutschen Germanisten-zunft, deren erster Präsident er war, eine völkische Sprachphilosophie, die der Heim-ins-Reich-Bewegung Hitlers und dem nationalsozialistischen Imperia-lismus wie ein Steinbruch kulturträchtige Rechtfertigungen lieferten.

 

Schulz dagegen steht - aus heutiger Sicht - für den historischen Prozeß der von den Reaktionären über Generationen bekämpften Sozialdemokratisierung der deutschen Gesellschaft, einen Prozeß, der nach der Wiedervereinigung selbst die christdemokratischen Parteien und Teile der Kirchenrepräsentanten beider Konfessionen erfaßt hat.

 

Im Parlament gehörte Grimm dem rechten Flügel des „Zentrums“ an, der sogenannten „Casino-Fraktion“. Diese Fraktion votierte prinzipiell gegen den republikanischen Geist und für die konstitutionelle Monarchie. Auch Grimms Ablehnung der politischen Linken - einschließlich der gemäßigten, der man auch Schulz zuordnen kann - war eindeutig. Die Diskussionen um die Lösung der „sozialen Frage“ waren für ihn nur „Geschwätz“. Aber auch den Freiheitsbegriff der Liberalen, die sich darunter nicht viel mehr als einen staatsgeschützten Kapitalismus vorstellten, teilte er nicht.

 

Schulz war dagegen stets bemüht, sich als Anhänger der entschiedenen Liberalen, der Freisinnigen, darzustellen, zählte aber faktisch zur republikanisch-demokratischen Mitte. Allerdings, als es zum Schwur kam, stimmte der Befürworter einer demokratischen und sozialen Republik für die erbliche Monarchie.

 

Als Lebensaufgabe hatte er von früher Jugend an zwei Ziele verfolgt, für die er nun auch als Volksvertreter kämpfte: Das Volk sollte über die gesellschaftlichen, die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Probleme aufgeklärt werden, um über sein Schicksal mitbestimmen zu können. Sein Ideal war eine bürgerlich-demokratische und sozialstaatliche Republik. Der Punkt, an dem er ansetzte, war auch während seiner Parlamentsarbeit das Militär. Er kämpfte unermüdlich für eine grundlegende Militärreform, in deren Mittelpunkt die Forderungen nach Abschaffung der stehenden Heere und der Wehrpflicht standen. Er setzte auf ein Freiwilligenheer, ein richtiges Volksheer. Und er verlangte die allgemeine Volksbewaffnung, die es nach seiner Auffassung künftig allen Regierenden unmöglich machen würde, das eigene Volk militärisch zu unterwerfen.

 

Mittels tiefschürfender statistischer Berechnungen und ökonomischer Argumente bewies er, daß die Rüstungskosten für die traditionellen Armeen die Staatshaushalte ruinierten und die Hauptschuld an Not und Elend der unteren Klassen der Bevölkerung trügen. Die Sozialreformen, die er sich vorstellte, konnten nur über eine entsprechende Militärreform verwirklicht werden. Es ging ihm letzendlich darum, einem drohenden Aufstand der niedergetretenen und niedergehaltenen Volksmassen vorzubeugen.

 

Geradezu haßerfüllt trat er gegen kommunistische Theoretiker und Theorien auf. Er warf ihnen sogar vor, „Werkzeuge der Reaktion“ zu sein. Gleichzeitig attackierte er aber auch das kapitalistisch-großindustrielle Ausbeutersystem der freien Konkurrenz, das den Armen und Ungebildeten nur das „leere Recht der Arbeit und des Erwerbs, nur den hohlen Titel des freien Staatsbürgers“ bewillige. (Walter Grab, S.298)

 

Seinen Freiheitsbegriff entwickelte Schulz aus „dem Ideal eines demokratisch legitimierten, bürgerlich-parlamentarischen Sozial- und Wohlfahrtsstaates, in dem wirtschaftlich selbständige und aufgeklärte Kleineigentümer aktiv am öffentlichen Leben teilnehmen und ihre Geschicke selbst bestimmen sollten, nicht nur erreichbar sei, sondern auch der wahren Natur des Menschen am besten entspreche.“

 

Dieser Freiheitsbegriff konstituiert sich aus der Rücksichtnahme auf die „menschliche Natur“, also die richtigen, dem durchschnittlichen Menschen und seinen Bedürfnissen angemessenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Zu den Rahmenbedingungen gehören für Schulz unverzichtbar die Freiheit des Eigentums, der freie Austausch der Güter und der freie Handel. Diese Haltungen schlugen sich in seinen Anträgen und Reden in der Paulskirche deutlich nieder.

 

Dagegen hatte Jakob Grimm sich seinen ureigensten Freiheitsbegriff gebildet und ihn auch in einem Antrag zur Grundrechtsdebatte der Verfassung eingebracht.

 

Schon als junger Legationsrat hatte er vom September 1814 bis Juni 1815 am Wiener Kongreß teilgenommen und während dieser Zeit an einer Reichsver-fassung gearbeitet. Dabei setzte er sich mit dem christlich-religiösen Freiheits-gedanken auseinander und kam zu einem Ergebnis, zu dem er auch noch als über 50jähriger in der Grundrechtsdebatte der Paulskirche stand.

 

Dies kommt klar zum Ausdruck in seinem Antrag, folgenden Grundrechts-artikel in die Verfassung aufzunehmen: „Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen (heute würde man sagen: ‘politische Flüchtlinge’, ‘Asyl-suchende’), macht er frei.“(zitiert nach den stenographischen Berichten: S.737)

 

So konservativ Grimm auch war, und so viel Stoff und Argumente er den sich später auf ihn berufenden Reaktionären auch lieferte, wirklich reaktionär war er selber nicht. Wenn er es für richtig hielt, unterstützte der eingefleischte Junggeselle, der als Calvinist selbst eine arbeitsethisch geprägte zölibatäre Lebensweise bevorzugte, auch linkspopulistische Forderungen wie die Abschaffung des Zölibats oder die Entwertung der Adelstitel und Orden.

 

Gegen die Aufrechterhaltung der Adelsprivilegien sagte er: „Wir wollen die Freiheit, als das Höchste, aufstellen, wie ist es dann möglich, daß wir ihr dann noch etwas Höheres hinzugeben? Also schon aus diesem Grunde, weil die Freiheit unser Mittelpunkt ist, darf nicht neben ihr noch etwas anderes Höheres bestehen. Die Freiheit war in unserer Mitte, so lange deutsche Geschichte steht, die Freiheit ist der Grund aller unserer Rechte von jeher gewesen; so schon in der ältesten Zeit. Aber neben der Freiheit hob sich eine Knechtschaft, eine Unfreiheit auf der einen und auf der anderen Seite eine Erhöhung der Freiheit selbst. In dieser Gliederung scheint mir der Beweis gegen den Adel zu liegen.“

 

Aber Grimm sagt auch: „Meine Herrn, ich will den Adel, ich kann ihn nicht so schwarz malen, wie Redner vor mir gethan haben...In unserer ältesten Geschichte glänzt der Adel in vielen Lichtpunkten.“ Und dann erinnerte er an die vielen adligen Dichter der deutschen Sprache.

 

Doch in seiner Argumentation tauchen im Zusammenhang mit der die Ständeordnung untergrabenden Buchdruckerkunst auch Argumente auf, die von Schulz oder gar von Marx nicht besser hätten formuliert werden können: „Die Buchdruckerei ging gerade so der Freiheit im Glauben voraus, wie heutzutage die Erfindung des Dampfes der Freiheit der Völker vorausgegangen ist. Beide sind Vorboten einer Freiheit, die nichts aufhalten konnte.“

 

Grimm erkannte also klar, daß die Entwicklung der Produktivkräfte die vor langen Zeiten an den Adel verloren gegangenen Freiheiten wieder herzustellen imstande war. Er wies darauf hin, daß nun die Bürger, nicht mehr der Adel, Träger der Wissenschaften und Künste seien und er lehnte es ab, wenn sich der bürgerliche Adel des Geistes mit einem „von“, das doch nur eine bloße Präposition sei, schmückten. Diese Präposition mache sie um kein Haar größer. Auch Orden seien abzulehnen, schon deshalb, weil sie jeder - ohne Rücksicht auf Leistung - bekomme. Sein Verfassungs-Antrag zur Adelsfrage lautete: „Aller rechtlichen Unterschiede zwischen Adeligen, Bürgerlichen und Bauern hört auf, und keine Erhebung weder in den Adel noch aus einem niedern in den höheren Adel findet statt.“ Sein Vorschlag für die Ordensfrage lautete: „1) Alle Orden für den Civilstand sind und bleiben abgethan. 2) Der Krieger behält seine auf dem Schlachtfeld erworbenen Orden. 3) Für das Heer wird ein neuer deutscher Orden gestiftet, den ein Kriegsgericht ertheilt und der nur eine einzige Klasse haben darf, der dem höchsten wie dem Geringsten zufallen kann. 4) Fremde Orden darf weder Civil noch Militär tragen.“

 

Schulz engagierte sich - entgegen seinen längerfristigen Reformideen - im Paulskirchenparlament hauptsächlich für die Vergrößerung der Armee und für militärische Einsätze, um die an verschiedenen Grenzen bedrohte Nation abwehrbereit zu halten. Aber er stellte selbst bei diesen militärischen Überlegungen immer die „soziale Frage“ in den Mittelpunkt. Dabei war er zu keinem Zeitpunkt bereit, dem Kommunismus, der doch viele seiner Ziele unterstützen konnte, auch nur die geringste Daseinsberechtigung zuzuerkennen. Im Gegenteil: Sein vehementes soziales Engagement könnte man als Bemühungen zur Verhinderung des Kommunismus deuten. Denn man gewinnt bei Schulz immer wieder den Eindruck, daß es ihm bei der Behebung der sozialen Mißstände weniger um die Linderung des Schicksals der Armen als um die Verhinderung von Revolution und Kommunismus ging. Dies ist - allem Anschein nach bis heute - die Grundposition des sozialdemokratischen Denkens.

 

Daß diese Art von Sozialpolitik noch heute dominiert, zeigt sich besonders krass, seit die kommunistische Bedrohung aus dem Osten fehlt. Seitdem wird immer deutlicher, daß weder das Zentralmotiv der traditionell bürgerlichen Parteien, noch das sozialdemokratischer Politik die Durchsetzung einer um der Menschen willen gemachten Wirtschafts- und Sozialordnung war. Mit dem Erreichen des eigentlichen Ziels, der Zerschlagung der einzig rationalen antikapitalistischen Gegenmacht, nämlich der kommunistischen Arbeiter-bewegung, werden die wenigen sozialen und demokratischen Errungenschaften des Reformsozialimus schamlos und erpresserisch wieder in Frage gestellt und abgebaut. Daß die Sozialdemokratie für die Erhaltung dieser Rechte auf die Barrikaden ginge, ist nicht zu erwarten. Hier werden sich die Menschen wieder selber helfen müssen.

 

Das Parlament der Feudaldemokraten

Das Mißlingen der Revolution von 1848 wurde im Zuge der später von „oben“ mit Blut und Eisen durchgesetzten Nationalstaatsbildung von romantisch-reaktionären Schöngeistern und ewig-gestrigen Nationalchauvinisten ignoriert und übertüncht.

 

Bei der anhaltenden Diskussion, die der „Bewältigung der deutschen Vergangenheit“ dienen sollen, werden meines Erachtens die wesentlichen Faktoren des Scheiterns der Nationalversammlung nicht hinreichend ernst genommen.

 

Dabei sollte doch auch dem oberflächlichen Kenner der deutschen Geschichte auffallen, daß die gefeierte theoretisch-politische Höhe des Niveaus der ersten gesamtdeutschen Verfassung angesichts der praktischen Mißachtung aller bürgerlichen Verfassungen durch das Bürgertum selbst eher auf Bedeutungslosigkeit schließen läßt.

 

Was soll ein heutiger Jungwähler oder gestandener Demokrat vom Wert des Grundgesetzes halten, wenn er erleben muß, daß nach Liquidierung des Grundrechts auf Asyl (um der inneren Sicherheit willen, die viel stärker von Konzernen bedroht wird) nunmehr ausgerechnet im Jahr 1998, im 150ten Jahre des zu feiernden Ereignisses, ein frei gewähltes deutsches Parlament - und zwar ohne Not - einen weiteren wichtigen Baustein aus dem Gebäude unserer bürgerlichen Grundrechte herausbricht?

 

Die Begründung, es würde die innere Sicherheit gefährdet, ist ein Witz. Natürlich sind ausländische Verbrecherbanden gefährlich. Aber nur ausländische? Man muss fragen, wi könnte ein Anschlag auf die Grundrechte des Volkes, dem die Volksvertreter verpflichtet sind, größere Zustimmung finden als durch den Hinweis auf gefährliche Ausländer? Daher wird auch die Organisierten Kriminalität vor allem Ausländern zugeschrieben und als besondere Gefährdung der inneren Sicherheit dargestellt. Um die Verbrechen der Organisierten Kriminalität zu verhindern, muß, so meinen zwei Drittel unserer Volksvertreter, das Grundrecht auf die Unversehrtheit der Wohnung quasi beseitigt werden - zur Legalisierung des großen Lauschangriffs. Die ist längst geschehen. Aber ist die innere Sicherheit deshalb besser gewährleistet?

 

Wie man sieht, finden sich auch in unserer Gegenwart schwerwiegende Gründe, die Feiern der deutschen Revolutions- und Verfassungsgeschichte, auch die hochgejubelte Studentenrevolte, durch kritische Analysen zu dieser Geschichte zu ergänzen. Deshalb soll in dieser Analyse der zentrale Aspekt das problematische Verhältnis der deutschen Bürgertums und seiner parlamentarischen Repräsentanten zu den demokratischen und sozialen Elementen der einzelnen deutschen Verfassungen und zur realsoziologischen Demokratisierung der deutschen Gesellschaft sein.

 

Es dürfte hinreichend bekannt sein, daß es die Neigung der meisten Festredner zu Erinnerungstagen und vieler offiziell anerkannter Historiker bei ihren popularisierten, über das Fernsehen verbreiteten Weltdeutungen ist, das Versagen der bürgerlichen Klasse zu verharmlosen.

 

Dieses Versagen bestand allerdings nicht darin, daß das erste deutsche Parlament vor der jederzeit zu grausamen Gewaltakten bereite Fürstenmacht kapitulieren mußte. Die Niederlage war vorhersehbar. Es bestand vielmehr darin, daß es sich mehrheitlich dieser Macht im vorauseilenden Gehorsam untertänigst unterwarf und nach seiner Niederlage sogar ein antidemokratisches Jahrhundertbündnis mit den reaktionärsten Teilen des Adels und des Klerus schloß. Diese Teile waren sich einig: Gegen Dekraten helfen nur Soldaten.

 

Soweit sich dieses Bündnis des Bürgertums mit den Verfechtern mittel-alterlicher Ideale gegen die erstarkende antikapitalistische Arbeiterbewegung richtete, ist es gerade noch zu verstehen und scheint es sogar logisch. Aber es richtete sich ja nicht nur gegen Sozialismus und Kommunismus, sondern auch gegen die – heute würden wir sagen Globalisierung – des nationalstaatlichen Wirtschaftssystem, gegen die Internationalisierung des Kapitals, der Märkte, der Arbeitskräfte.

 

Deshalb sagte die Arbeiterbewegung nicht nur dem jungen deutschen Nationalstaat den Kampf an, den Bismarck durch eine Serie von Kriegen gerade erst geschaffen geschaffen hatte, in dem Sozialdemokraten, die damals noch als Kommunisten verschrien waren und verfolgt wurden, mit Blick auf diese Staatspraxis nicht unbegründet als „ideellen Gesamtkapitalisten“ charakteri-sierten. Aber dieses Bündnis von Reaktionären, Konservativen und Liberalen gegen die Arbeiterbewegung richtete sich - und eben dies ist nicht so leicht verständlich – auch gegen die nun doch – trotz der Niederlage des Paulskirchen-parlamnents von 1848/49 – erstarkende bürgerlich-parlamentarische Demokratie. Die Haltungen von Jakob Grimms und Wilhelm Schulz können uns Heutigen vielleicht verständlich machen, weshalb die deutsche Bourgeoisie erst nach langen, leidvollen Um- und Irrwegen, nach schweren Verbrechen und der Niederlage des deutschen Nationalsozialismus – und dies nur widerstrebend - zu der Einsicht gelangte, die schon lange vor 1848 bekannt gewesen ist, daß die einzig wahre Staatsform der bürgerlich kapitalistischen Demokratie der Parlamentarismus ist.

 

Die Abgeordneten des Paulskirchenparlaments wurden in ihrer überwältigenden Mehrheit ihrem hochgesteckten eigenen Anspruch, das ganze deutsche Volk zu repräsentieren, nicht annähernd gerecht. Vertreter der unteren sozialen Klassen fehlten in diesem Parlament völlig. Als sich der Gegensatz zwischen den Willensäußerungen der revolutionären Teile der Bevölkerung und der Parlamentsmehrheit allzu schmerzlich und ihn zahlreichen „Adressen“ von Bürgern an das Parlament bemerkbar machte und der Antrag des Hanauer Abgeordneten Rühl auf Neuwahlen gestellt wurde, lehnten diese mit großer Mehrheit ab.

 

Auch die Anerkennung der verspäteten Wahl des Revolutionärs August Hecker und eines Amnestieantrags für ihn wurden nach heftigen Auseinandersetzungen, die beinahe zu Schlägereien des hohen Hauses führten, mit 350 gegen 110 Stimmen abgelehnt.

 

Die überwältigende Mehrheit der 585 Abgeordneten der Paulskirche begriff nicht oder wollte nicht begreifen, daß ihre historische Rolle nicht nur in der Überwindung der hinterweltlerischen Kleinstaaterei, sondern zugleich in der revolutioären Eroberung des staatlichen Gewaltmonopols bestand. Da sie dieses Ziel nur mit Bündnispartnern erreichen konnten, hätte sich mindestens eine Zweidrittel-Mehrheit der gewählten Volksvertreter eindeutig für ein politisches Bündnis mit den revolutionären Teilen des Volks entscheiden und auch die bewaffnete Auseinandersetzung mit den alten Gewalten - bei Gefahr des eigenen Untergangs, also auch unter Einsatz des eigenen Lebens - wagen müssen. Doch dazu waren nur sehr wenige bereit.

 

Das Parlament der Paulskirche war eine Honoratiorenversammlung aus vielen bekannten Gelehrten, Schriftstellern, Publizisten, Journalisten, Wissenschaftlern und Staatsdienern, aus vielen älteren, saturierten und etablierten Herrn, die von der Kritik mit Recht als „Hofdemokraten“ bezeichnet wurden. Sie waren - was man logischerweise gar nicht sein kann: Feudaldemokraten.

 

Nicht einmal die demokratische „Linke“, ob gemäßigt oder radikal, weder Robert Blum, Ludwig Uhland und Wilhelm Schulz noch die übrigen waren bereit, sich mit den Kämpfern gegen die reaktionären Ordnungskräfte zu solidarisieren. Sie glaubten allen ernstes, ihre Revolution könne an den Feudalherrn vorbei auf friedlichem Wege, durch eine schöne, die notleidende Menschenmassen überzeugende Verfassung verwirklicht werden. Der Wortführer der Paulskirchen-Linken, Blum, der keine Gelegenheit ausließ, gegen die Gewalt von unten anzukämpfen, wurde dennoch sinnloses Opfer der Gewalt von oben. Die österreichischen Obrigkeiten erschossen ihn, um dem Paulskirchen-parlamentarismus ihre Entschlossenheit zu signalisieren, daß sie ihre Macht auf Leben und Tod zu verteidigen entschlossen war. Es zeigt aber einer der Besonderheiten des deutschen Bürgertums, daß es Willkür und Gewalt von oben akzeptiert und unterstützt, nicht aber die revolutionäre Gewalt, die sich den Obrigkeiten widersetzt. Die deutsche Bourgeoisie ist antidemokratisch, antiparlamentarisch. Wenn sie Freiheit sagt, meint sie entweder die von Jakob Grimm vertretene, aus der mittelalterlich-christlichen Welt entliehene - Freiheitsidee (Luthers Freiheit des Christenmenschen) oder die ordinäre unternehmerische Eigentum und unternehmerische Betätigungsfreiheit.

 

Die „Hofdemokraten“ von 1848/49 scheinen aus dem blutigen Scheitern ihres durchaus liebenswürdigen Vorhabens, die Einheit und Freiheit der Deutschen herzustellen, nicht einmal gelernt zu haben, daß jede demokratische Verfassung so viel wert ist wie die Kampfbereitschaft, sie durchzusetzen und zu verteidigen. Auch die demokratisch nicht legitimierte, aber von der Gesellschaft akzeptierte oder geduldete militärische, polizeiliche und bürokratische, allerdings - bei entsprechender Dimension - auch private ökonomische Macht konstituiert eine Verfassung, wie die „Verfassung“ des Bismarckstaates deutlich machte und unsere heutige Verfassung als Verfassungswirklichkeit betrachtet - zweifelsfrei belegt.

 

Schlußbetrachtung

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Grimm und Schulz für die mehrheitliche Mitte des Paulskirchenparlaments – trotz ihrer Gegensätze - repräsentative Persönlichkeiten sind. Ihre ablehnende Haltung zur sozialen Revolution als eines gewaltsamen Übergangs in einen republikanischen oder konstitutionell-monarchistischen Nationalstaat, Grimms fragwürdiges vorzeitiges Ausscheiden aus dem Parlament und Schulzens Zustimmung zur Erbmonarchie, dies und vieles mehr führte dazu, dass die Parlametarier der Paulskirche beim Volk kein Vertrauen fanden. Sie konnten es deshalb auch nicht für den künftigen bürgerlichen Parlamentarismus, der erst durch Bismacks verstpätete Nationstaats-gründung Wirklichkeit geworden war, begründen. Vertrauen in den Parlamenta-rismus, vor allem in die parlamentarische Demokratie, fehlte und fehlt noch immer bei vielen der bürgerlichen Demokraten selbst. Vor allem, weil er mit der Abschaffung des Dreiklassen- bzw. Zensuswahlrechts auch Sitz und Stimme eine Abgeordneten einräumen muss, der diesen längst zur Oligarchie verkommenen Parlamentarismus in Frage stellen darf.

 

Bis in unsere Gegenwart haben bürgerliche Demokraten aller kapitalistischen Demokratien ein sichtbar und spürbar gebrochenes Verhälnis zu ihren demokratischen Verfassungen, demnach auch zur Demokratie, zu der sie sich auf Abruf jederzeit freudig bekennen, zugleich aber Grundrechte und Sozialrechte und andere wesentliche Elemente einer sozialstaatlichen Demokratie auszuhölen, zu untergraben bereit sind, wenn es darum geht, nicht nur den Staat, sondern auch die schon zu staatsähnlichen Machtgebilden herangewachsenen Konzerne demokratischer Kontrolle zu unterwerfen.

 

Die Angst vorm „Volk“ verlieren deutsche bürgerliche Politiker und Intellektuelle offensichtlich nur, wenn sie dieses Volk unter polizeilicher Kontrolle haben. Sie vergessen immer wieder, daß bisher alle „Schnüffel-„ und „Überwachungsstaaten“ nur großes Unheil angerichtet haben und damit erst aufhörten, als sie schmählich zugrunde gingen.

 

„Jacob Grimm war“ - schreibt Helmut Reinicke im Ausstellungskatalog 200 Jahre Brüder Grimm, Kassel 1985/86, S.126) - „für die Zusammensetzung der Frankfurter Paulskirche eine exemplarische politische Figur: er war nicht wegen der Politik gewählt worden, sondern als Person; als Symbolgestalt für die Einheitskraft deutscher Sprache und Geschichte.“ Er beeinflußte - obgleich in ihm schon ein Europäer, vielleicht sogar ein früher Weltbürger steckte - vor allem über die den deutschen Nationalismus und Imperialismus stützende Germanistik - ganze Generationen deutscher Professoren, Studierender, Lehrer und Schüler. Aber – wenn auch ganz anders – durch die bis in unsere Zeit weltweit wirksame Märchensammlung für Eltern und Kinder, auch unser romantisches Denken.

 

Jacob Grimms bewundernswerte wissenschaftliche Leistungen, seine Archeologie der deutschen Sprach- und Rechtsaltertümer, hat – wenngleich unbeabsichtigt - ebenso wie einige seiner politischen Reden, dem deutschen Konservatismus und – über diesen - auch dem Nationalismus, ja sogar dem Nationalsozialismus schlimme Argumente und Rechtfertigungen geliefert, also den unheilvollen Enwicklungen der deutschen Geschichte, Vorschub geleistet.

 

Lange nach dem Zusammenbruch des NS-Systems, ab den 1960er Jahren, hat eine damals immer kritischer gewordene Germanistik damit begonnen, die von der nationalistischen Germanistik verschütteten, allerdings spärlichen und sehr spät geäußerten liberalen und demokratischen Elemente im Denken der Brüder Grimm, vor allem Jacobs, wieder aufzuspüren. Im Katalog 200 Jahre Brüder Grimm heißt es:

 

„Nur wenige konservative und liberale Köpfe aus dem bürgerlichen Lager begriffen vor der Niederlage des deutschen Faschismus im Jahre 1945, daß es ein kaum wieder gutzumachender historischer Fehler war, im Jahre 1848 jeder Form von revolutionärer Gewalt abschwören. Zu diesen Wenigen gehört auch Jacob Grimm, einer der eher zum christlich-konservativen Flügel zählenden Abgeordneten der Paulskirchenversammlung. Zehn Jahre nach der 48er Revolution schrieb er an seinen viel jüngeren Fachkollegen, den Verfassungshistoriker, Georg Waitz, der ebenfalls Abgeordneter des Paulskirchenparlaments gewesen ist, auf die Verhältnisse in Deutschland zurückblickend:

 

‚Wie oft muß einem das traurige Schicksal unseres Vaterlandes in den Sinn kommen und auf das Herz fallen und das Leben verbittern. Es ist an keine Rettung zu denken, wenn sie nicht durch große Gefahren und Umwälzungen herbeigeführt wird. Es kann nur durch rücksichtslose Gewalt geholfen werden. Je älter ich werde, desto demokratischer gesinnt bin ich. Säße ich nochmals in einer Nationalversammlung, ich würde vielmehr mit Uhland, Schoder stimmen, denn die Verfassung in das Geleise der bestehenden Verhältnisse zu zwängen, kann zu keinem Heil führen. Wir hängen an unseren vielen Errungenschaften und fürchten uns vorm rohen Ausbruch der Gewalt, doch wie klein ist unser Stolz, wenn ihm keine Größe des Vaterlands entgegensteht’.“(zit. nach 200 Jahre Brüder Grimm, S.21)

 

Der ehrenwerte Versuch, Jacob Grimm doch noch für die heutige bürgerliche Demokratie zu retten.

 

Wilhelm Schulz wirkte mit seinen Beiträgen über Georg Büchner in unsere Gegenwart hinein, indem ihm zu einem beträchtlichen Teil zu verdanken ist, daß der geniale deutsche Dichter des Revolutionsdramas „Dantons Tod“ nicht in Vergessenheit geriet. Und mindestens ebenso geschichtsträchtig wirkte er mit seinen frühen ökonomischen Studien, mit denen er die Weichen für die Herausbildung des dialektischen Materialismus stellen half, denn seine Arbeit hat den jungen Karl Marx - der ihn selbst nie kennenlernte - stark beeinflußt. Marx rezipierte die politische Ökonomie von Schulz, trotz seines (auch für Marx schon erkennbaren) entschiedenen Antikommunismus.

 

Leben und Gesellschaftsentwürfe von Schulz hat der Historiker Walter Grab in unübertroffen liebevoller und doch zugleich unbestechlich kritischer Weise in der Biographie „Dr. Wilhelm Schulz aus Darmstadt - Weggefährte von Georg Büchner und Inspirator von Karl Marx" (Büchergilde Gutenberg) beschrieben. Sein politisches Staatsverständnis war - vor allem mit Blick auf die Volks-bewaffnung - zweifellos von der damaligen Schweizer Kantonaldemokratie geprägt, aber viele seiner Visionen könnte man als frühe Vorwegnahme des heutigen Sozialstaats Bundesrepublik Deutschland interpretieren.

 

Literaturhinweise:

 

1) Blum, Hans: Die deutsche Revolution 1848-49, Florenz und Leipzig 1897

 

2) Grab, Walter: Dr. Wilhelm Schulz aus Darmstadt - Weggefährte von Georg Büchner und Inspirator von Karl Marx, Büchergilde Gutenberg, ohne Jahr.

 

3) 200 Jahre Brüder Grimm - Ihre amtliche und politische Tätigkeit, Kassel 1985.

 

4) Hans See, 400 Jahre Hanauer Wirtschafts- und Sozialgeschichte - Hanau als Grenzstadt. In: Auswirkung einer Stadtgründung - 400 Jahre Neustadt Hanau - 400 Jahre Wallonisch-Niederländische Gemeinde, Hanau 1997.

 

5) Hist. Museum Hanau (Hg.): Hanau im Vormärz und in der Revolution 1848/49

 

Der Aufsatz entstand aus einem Vortrag, den ich anläßlich der Erinnerung an die "Revolution" von 1848 und das erste Deutsche Parlament 1998 an der Volskochschule Hanau hielt. Er blieb unveröffentlicht.