Hans See
Über freie Malerei
Eröffnungsvortrag zur Austellung der Bilder von Ingrid B.-Borgwardt
Ort: Bürgerhaus Maintal-Bischofsheim
Zeit: Am 15.3.2014 um 17 Uhr.
Vorweg einige nicht ganz ernst gemeinte, aber erst zu nehmende Anmerkung eines freien Malers über freie Malerei:
Frei geschichtet von Prenzlmaler aus der Hochburg für Freie Malerei Berlin:
Freie Malerei ist, wenn man nackt vor der Staffelei sitzt.
Freie Malerei ist, beim Verkauf der Bilder mit dem Finanzamt nichts am Hut zu haben.
Freie Malerei ist, freie Radikale im Bild festzuhalten.
Freie Malerei ist, malenden Knastologen ein Stück Freiheit zu gewähren.
Freie Malerei ist, beim Malen nicht auf dem Nachttopp zu hocken.
Freie Malerei ist, wenn der Ehefrau kurz die Handschellen genommen werden,
damit sie ein bisschen frei malen kann.
Freie Malerei ist, wenn sich eine Uni das Mäntelchen Freier Malerei überstülpt,
weil der Begriff Malerei zu unbedeutend erscheint.
Gruß Prenzl, freier Maler.
Und nun meine ernsthaften Anmerkungen zur freien Malerei
Dass man die freie Malerei so beliebig definieren kann, ist der Freiheit der Kunst zu verdanken, die ja auch für die Dichtung und die Musik, letztendlich für alle Kunstgattungen gilt.
Natürlich liegt es nahe, jede Malerei, die sich nicht als frei bezeichnet, als unfreie Malerei miss zu verstehen. Das suggeriert ja auch der freie Maler Prenzl, der sich mit den Definitionen der freien Malerei über freie Malerei lustig macht.
Da wir es hier und heute erklärtermaßen mit freier Malerei zu tun haben und jeder vor Augen hat, was die Malerin darunter versteht, will ich versuchen, eine für diese Bilder angemessene Definition für freie Malerei zu liefern.
Wir sehen zunächst fantastische Bilder, faszinierend aufeinander abgestimmte Farben, teils ruhige, teils wilde Farbspiele und Formen. Das kennen wir auch von der unfreien Malerei. Auch die Bildinhalte, ob sie noch an Reales erinnern oder sich schon in der Grauzone hin zu Inhaltsleerer, rein ästhetischen Malerei, zur vollkommenen Abstraktion bewegen, vielleicht sogar schon eindeutig zur abstrakten Malerei gehören, alles finden wir auch in der unfreien Malerei.
Ich hoffe, dass es aufgefallen ist: Für das Übergangsfeld von gegenständlicher und abstrakter Malerei ist der Begriff „Grauzone“ eine unzulässige Bezeichnung. Denn meist geht es gerade in diesem Übergangsfeld nicht grau, sondern äußerst farbenfroh zu. Allenfalls grauenhaft.
Mit dem Gegensatzpaar Gegenständlich und Abstrakt ist die gesamte Spannbreite der Freiheit der Kunst, nicht die spezifische Eigenart der freien Malerei, erfasst. Wir müssen also von der Formenvielfalt absehen. Die freie Malerei hat mit der Freiheit der Formenwahl offenbar nichts zu tun. Was also könnte dieses Adjektiv „frei“ bedeuten?
Was kann man von der Kunstwissenschaft über freie Malerei erfahren?
Eigentlich nichts. Es ist kein dort üblicher Begriff. Es gibt aber einen kunstwissenschaftlichen Ansatzpunkt zur Erklärung, der vielleicht hilft, diese Bilder über die wundervollen Eindrücke hinaus, die sie hinterlassen, zu verstehen. Hier muss man mit den Begriffen „Werkstätten“ bzw. „Schulen“ beginnen.
Die Geschichte der Malerei kennt große Werkstätten, in denen ungezählte Schüler lernten und für den großen Meister die Vorarbeiten leisteten. Er selbst verfeinerte diese Bilder und setzte seinen Namen darunter. Manche berühmte Bilder - wie der Mann mit dem Goldhelm von Rembrandt - können heute mit den modernen Analysemethoden als reine Schülerarbeiten aus Rembrandts Werkstatt erkannt werden. Dass mit dieser Erkenntnis das Bild plötzlich weniger wert sein soll, glauben nur die, die die Kunst als „Ware“ betrachten und mit großen Namen ihre Geschäfte machen. Sie glauben nur an Originale und an gute Fälschungen, die noch nicht als solche erkannt sind.
Die Schulen der Großmeister haben allerdings Maßstäbe gesetzt. Im Mittelalter wurden diese Maßstäbe aus der Bibel und aus der Geschichte der Heiligen und Helden entwickelt. Am Ende war gute Malerei nur noch, was den Maßstäben der Herrschenden oder der Großmeister der Kunst gerecht wurde. Diese Unfreiheit ist aber zugleich der Ursprung der freien Malerei. Allerdings haben den Sprung der Sezession fast immer nur Künstlergruppen gewagt. Dies meist in der Absicht, eine eigene, eine „freie“ Schule zu eröffnen.
Die Impressionisten, die Wiener Sezession, die Brücke, die Blauen Reiter sind entstanden alle als Versuche, die Malerei aus ihren jeweiligen Fesseln zu befreien. Und da einige Künstler sehr schnell spürten, dass sie nur das Gefängnis gewechselt hatten, kam es gleich wieder zu neuen Sezessionen.
Derartige Entwicklungen verraten etwas über das Dilemma der Kunst, besonders der Malerei. Kunst will die Welt erklären oder auch verklären, sich aber auch ernähren. Dazu muss sie sich oft sehr weitgehend den herrschenden Verhältnissen beugen. Sie will aber auch das künstlerische Ego, das Ich, die ureigensten künstlerischen Intuitionen, ästhetischen Innovationen, manchmal sogar politische Positionen in der Gesellschaft zur Geltung bringen. Und genau dies ist der harte Kern, der in dem weichen und kaum greifbaren, daher schwer zu begreifendem Begriff „freie Malerei“ greifbar wird.
Was wir hier beobachten, spiegelt den Lauf der langfristigen Entwicklung der Gesellschaften der ganzen Welt wider. Die Ursprungsmythen der Herrschaft, zu denen auch das Paradies und Adam und Eva gehören, stellen einen großen Teil des Bildervorrats, der unser Weltverständnis, unsere kulturelle Identität ausmacht. Er sitzt in unseren Köpfen, bestimmt unser Sein und unser Bewusstsein, muss sich aber wandeln, weil die Geschichte unausweichlich Entwicklung, also Kommen und Gehen, Bestehen und Vergehen bedeutet.
Wir können in der Geschichte der Menschheit zwei große Strömungen beobachten, die Säkularisierung und die Individualisierung. Das aber heißt, die ewige Götterwelt löst sich auf in Geschichte, und diese Geschichte in Geschichten. Zunehmend begreifen wir, dass Geschichte erst mal nur die Summe von Geschichten ist, die – meist von Schreiberlingen der Herrschenden – als Geschichte eben dieser Herrschenden erzählt und geglaubt wird.
Wir erkennen dies, weil das so genannte Weltliche zunehmend die Oberhand über das Metaphysische gewinnt. Das erzeugt panische Ängste. Sonst wäre nicht zu erklären, das der religiöse Fanatismus, in den immer wieder auch aufgeklärte Denker und Künstler zurückzufallen drohen, regelrechte kollektive Panikattacken auszulösen vermag.
Die Säkularisierung der abendländischen Kunst setzte mit der Renaissance ein und hat – trotz aller von Ängsten ausgelösten Rückschläge – ihren Siegeszug fortgesetzt und bis heute nicht beendet. Dasselbe kann man auch von der nicht ganz parallel zur Säkularisierung verlaufenden Individualisierung sagen. Sie hat in der zeitgenössischen Kunst, also auch der Malerei, viele Höhepunkte erreicht, und sie wird - wie es bei Individualisierungsprozessen ja gar nicht anders sein kann – immer mehr solcher Höhepunkte erreichen, theoretisch so viele, wie es freie Maler und Malerinnen gibt.
Denn im Begriff der freien Malerei, so viel dürfte jetzt schon deutlich geworden sein, steckt das eigentlich offene Geheimnis der Individualisierung. Sie erklimmt oder erstürmt ja nicht nur in der Gesellschaft, in den ungezählten Segmenten der Gesellschaften dieser Welt, einen Gipfel nach dem anderen, sie schafft nicht nur beängstigende Auswüchse des Solipsismus und Egoismus, die bringt soziologische und juristische Kuriositäten wie die Ich-AG hervor, und damit entsprechende Widerspiegelungen im Kultur- und Kunstbetrieb.
Im Bereich der Kunst freilich erlebt manches Ego, manches totale Ich, so befremdlich es sich bei dem einen oder anderen Künstler bemerkbar macht, einen qualitativen Sprung. Es entstehen einmalige, sich keinen Kategorien fügenden Kunstwerke. Man hat für sie keine Schubladen, keine Namen, es fällt schwer, über irgendwelche Assoziationsketten Bilderklärungen zu finden. Was da entsteht, steht für sich. Ist - leider - auch gerade deshalb für den Kunstkonsumenten nicht nachhaltig wirksam. Man möchte an etwas erinnert werden. Daher machen die freien Maler, ich meine jetzt die wirklich originellen, auch Konzessionen. Nicht immer tut es ihren Bildern gut. Aber dem Publikum.
Bilder, mit denen das Publikum nichts anzufangen weiß, die nicht wenigstens einen kleinen entgegenkommenden Ansatz zu ihrem Verständnis bieten, werden irgendwann zum Kunstmüll gehören und – wenn es Kunstsachverständige mit ihnen gut meinen – in irgendwelchen Depots von Museen verschwinden. Wie lange? Bis sie die Patina ihres Alters zu historisch interessanten Erinnerungsstücken macht, deren Ausstellung Millionen Besucher anlocken. Doch den meisten Bildern der beschriebenen Art wird nur selten das Glück zuteil, im Nachhinein als große Kunst entdeckt und anerkannt zu werden.
An einen Höhepunkt der säkularisierten und individualisierten Kunst möchte ich hier zum Schluss noch kurz erinnern. Er hat einen wirklich zutreffenden Namen, den der Direktor der Kunsthalle Bern, Harald Szeemann 1963 kreierte. Er sprach von „individuellen Mythologien“. Dargestellt hat diesen Begriff der Kasseler Kunstpädagoge Harals Kimpel in dem großartigen Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst des Verlags Dumont. Dort heißt es: „Individuelle Mythologien“ dienten als Sammelbezeichnung für künstlerische Äußerungen, die in den frühen siebziger Jahren noch keinen Namen hatten, weil sie in kein Schema zu passen schienen. Die Formel steht für subjektive Mitteilungen obsessiver künstlerischer Einzelgänger und Einzelgängerinnen über ihre existentiellen Selbsterfahrungen. …Sie fungiert…als Zusammenfassung eines breiten Spektrums heterogener medialer Ausdrucksformen, denen die Atmosphäre mentaler Intensität gemeinsam ist; ein nur undeutlich begrenzter „geistiger Raum, in dem ein Einzelner jene Zeichen und Signale setzt, die ihm seine Welt bedeuten“. (S. 120, Dieter Bachmann.)
Und es geht noch weiter: „Individuelle Mythologien konfrontieren die Außenwelt mit visuellen Manifestationen, die sie als ihre eigene Wirklichkeit ausgeben, mit selbst erzeugten Bildwelten, deren komplexe Gefüge aus Zeichen und Symbolsystemen den Anspruch eigenständiger Realität erheben. Das Konzept nimmt also diejenigen KünstlerInnen ernst, die sich – stets in Gefahr als „Spinner“ (Szeemann) abgetan zu werden – mit ihren Bildwelten aus den Konventionen der des kollektiven Wirklichkeitsverständnisses ausklinken und Entwürfe eines Kosmos (das heißt einer Ordnung - HS) liefern, der nur den eigenen kontrollierten Gesetzmäßigkeiten gehorcht.“
Nun, ich sehe in der freien Malerei von Ingrid Borgward manche Eigenarten, die es nahelegen, sie dem Konzept „individueller Mythologien“ zuzuordnen. Aber ihre Bilder lassen sich dieser Definition nicht in vollem Umfang zuordnen. Daher würde ich lieber, statt von individuellen Mythologien von individuellen Fantasien sprechen. Dieser Prüfung halten ihre Bilder stand. Es sind die unverwechselbaren Bilder der Ich-AG Ingrid Borgward. Sie ist nicht egozentrisch genug, um eigene Mythologien zu produzieren, wie dies zum Beispiel einem Joseph Beuys gelingen konnte.
Auch dass Ingrid Borgward nie wirkliche Selbstportraits malte, möge ihr auch mal eines der von ihr gemalten Gesichter ähnlich gesehen haben, spricht eher dafür, ihre Bilder einem Begriff zuzuordnen, der sich für die freie Malerei weit besser eignet als der der individuellen Mythologien, nämlich dem der individuellen Fantasien.
Hier hat der freie Betrachter freier Malerei nun seinerseits viele Möglichkeiten, eigene Fantasie zu entwickeln, um sich in diese subjektiven, von Träumen und Alpträumen, Ängsten und Glücksmomenten, Farb- und Formorgien belebten Bilderwelten hineinzuversetzen und seinen dabei entstehenden ästhetischen und moralischen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Jedes Bild steht hier für eine eigene, ihre eigene Welt. Also nicht unbedingt für eine Welt, wie sie ist, aber auf jeden Fall für eine, wie wir uns die wirkliche Welt künstlerisch anzueignen vermögen.
Sehr schade finde ich, dass die freie Malerei in unseren großen Galerien und Museen zumindest seit den 80er Jahren kaum noch eine Chance erhält. Die an große Namen gefesselte Kunst- und Kulturindustrie braucht die Botticellis, die Dürers, die Richters, denn es geht mehr denn je um Besucherzahlen von Museen, dem Äquivalent der Einschaltquoten des Fernsehens, um Umsatz der Kulturindustrie, immer weniger ums persönliche Kunsterlebnis.
Damit geschieht, was ja auch zu begrüßen ist, weil es schon fast als Kunstkritik, zumindest als Kritik des gegenwärtigen Kunstbetriebs verstanden werden kann, dass die zeitgenössische Kunst in die kleinen Galerien, in die von Kommunen zur Verfügung gestellten Räume Einzug hält, wofür alle, die diese Millionen in Bewegung setzenden Kunstwallfahrten abscheulich finden, dankbar sein sollten.
Schlussbemerkung:
Ich wünsche dieser Ausstellung viele Besucher, auch wenn die Künstlerin in keine Schublade passt. Ihre Bilder sind große Klasse. Würde man ihre besten Arbeiten unbemerkt im Städel aufhängen, würde garantiert niemand, auch nicht der Kunstkenner, auf den Gedanken kommen, die hätten dort nichts zu suchen. Im Gegenteil, sie würden sich wahrscheinlich - wie ich – nur fragen, wieso sie noch niemand der Kuratoren entdeckt hat. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Wenn ich darüber zu befinden hätte, wäre es schon geworden.